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Schlink,Bernhard

Schlink,Bernhard

Titel: Schlink,Bernhard Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sommerlügen
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den beruflichen Aufgaben vor und nach 1945, derart in
Kontinuität sah, dass es eigentlich immer das Gleiche war und es nichts darüber
zu sagen gab?
    Er
würde mit seinem Vater morgen wieder reden. Wortlose Vertrautheit war zu viel
erwartet. Auch auf wortreiche Vertrautheit brauchte er nicht zu hoffen. Aber er
wollte ihn erreichen. Er wollte nach seinem Tod mehr von ihm haben als eine
Fotografie auf dem Schreibtisch und Erinnerungen, auf die er gerne verzichtet
hätte.
    Er
erinnerte sich an die ungeschickten, ungeduldigen Versuche seines Vaters, ihm
das Schwimmen beizubringen, an die langweiligen, freudlosen Spaziergänge, die
er zweimal im Jahr mit ihm und seinem Bruder am Sonntag nach der Kirche machte,
an die Verhöre über die Leistungen in der Schule und auf der Universität, an
die quälenden politischen Auseinandersetzungen, an den Ärger seines Vaters,
als er sich scheiden ließ, die erste Scheidung in der Familie. Er fand keine
einzige beglückende Begebenheit, an die er sich hätte erinnern können.
    Nichts
war zwischen ihm und seinem Vater, nichts. Das Nichts machte ihn so traurig,
dass es in seiner Brust eng wurde und seine Augen feucht wurden. Aber die
Tränen kamen nicht.
     
    7
     
    Erst
im Angesicht der Kreidefelsen erzählte sein Vater, dass er früher schon auf
Rügen gewesen war. Das erste Mal auf der Hochzeitsreise mit seiner ersten und
das zweite Mal auf der mit seiner zweiten Frau. Das Ziel beider Hochzeitsreisen
war Hiddensee, und der Umweg zu den Kreidefelsen wäre beide Male zu groß
gewesen. Er freute sich, sie endlich zu sehen.
    Beim
Mittagessen fragte er: »Welche Motetten werden heute Nachmittag gesungen?«
    Der
Sohn stand auf und holte das Programm: Fürchte
dich nicht, ich bin bei dir; Der Geist hilft unser Schwachheit auf; Jesu, meine
Freude; Singet dem Herrn ein neues Lied.
    »Kennst
du die Texte?«
    »Die
Texte der Motetten? Kennst du sie?«
    »Ja.«
    »Alle
Motetten? Alle Kantaten?«
    »Es
gibt Hunderte von Kantaten und nur wenige Motetten; ich habe sie als Student
im Chor gesungen. >Fürchte dich nicht, ich bin bei dir, ich stärke dich, ich
helfe dir, ich erhalte dich durch die Hand meiner Gerechtigkeit< - ein
schöner Text für einen Studenten der Rechte.«
    »Ich
weiß, dass du jeden Sonntag in die Kirche gehst. Aus Gewohnheit oder weil du
wirklich glaubst?« Er wusste, dass er eine heikle Frage stellte. Sein Vater
hatte mit Trauer zur Kenntnis genommen, dass seine drei Kinder schon früh von
der Kirche nichts mehr wissen wollten, es aber nur durch das betrübte Gesicht
zu erkennen gegeben, mit dem er am Sonntagmorgen ohne sie vom Frühstück
aufstand und in die Kirche aufbrach. Er hatte mit ihnen nie über Religion gesprochen.
    Sein
Vater lehnte sich zurück. »Glauben ist eine Gewohnheit.«
    »Er
wird es, aber er fängt nicht als Gewohnheit an. Wie hast du angefangen zu
glauben?« Das war eine noch heiklere Frage. Seine Mutter hatte einmal erwähnt,
dass sein Vater, ohne Religion aufgewachsen, als Student eine Bekehrung erlebt
hatte. Aber darüber, wie die Bekehrung stattgefunden hatte, hatte sie nichts
gesagt, und der Vater hatte nie auch nur über die Tatsache der Bekehrung
gesprochen.
    Er
lehnte sich noch weiter zurück, und die Hände hielten die Enden der Lehnen
fest. »Ich ... ich habe immer gehofft ...« Er sah ins Leere. Dann schüttelte
er langsam den Kopf. »Ihr müsst es selbst erfahren. Wenn ihr es nicht
selbst...«
    »Rede
mit mir. Mutter hat einmal erwähnt, dass du als Student eine Bekehrung erlebt
hast. Das muss das wichtigste Ereignis in deinem Leben gewesen sein - wie
kannst du es deinen Kindern verschweigen? Willst du nicht, dass wir dich
kennen? Dass wir wissen, was für dich wichtig ist und warum? Merkst du nicht,
wie weit weg wir von dir sind? Denkst du, es war nur der Beruf, der deine
Tochter nach San Francisco und deinen Ältesten nach Genf getrieben hat? Wie
lange willst du noch warten, bis du mit uns redest?« Er wurde immer erregter.
»Verstehst du nicht, dass Kinder von ihrem Vater mehr wollen als gemessenes
Verhalten und distanziertes Schweigen und eine gelegentliche Auseinandersetzung
über irgendwas Politisches, das morgen ohnehin vergessen ist? Du bist
zweiundachtzig, und eines Tages bist du tot, und alles, was mir von dir bleibt,
ist der Schreibtisch, den ich schon als Kind gemocht habe und von dem die
Geschwister schon als Kinder gesagt haben, ich könne ihn einmal haben. Ja, und
manchmal werde ich mich dabei ertappen, dass ich sitze, wie du

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