Schlink,Bernhard
Oder die Verkehrsnachrichten schalteten sich ein und
berichteten von Staus und zähflüssigem Verkehr und einem Pferd auf der
Autobahn, und der Vater stellte fest, sie seien davon nicht betroffen. Oder
sein Vater merkte, dass er vor einer Tankstelle langsamer fuhr, fragte ihn, ob
er tanken müsse, und er erklärte, er überlege, ob er bei dieser oder bei der
nächsten Tankstelle tanken solle. Oder er fragte seinen Vater, ob er einen
Kaffee trinken oder zu Mittag essen oder die Lehne tieferstellen und schlafen
wolle.
Er
war zu seinem Vater aufmerksam, höflich, verbindlich. Er tat, was er auch
täte, wenn er sich seinem Vater verbunden gefühlt hätte. Aber er fühlte sich
ihm nicht verbunden, er war kalt und weit weg. Er dachte an das, was ihn am
nächsten Tag in der Zeitung erwartete, an die Kolumne, die Reihe mit Porträts
und an den großen Artikel über die Reform des Unterhaltsrechts, den er in der
nächsten Woche schuldete. Versuchte sein Vater, mit seinen Erinnerungen,
Belehrungen, Feststellungen und Fragen ein Gespräch in Gang zu bringen? Es war
ihm gleichgültig, und er blieb einsilbig.
Als
es noch eine Stunde war, bis er seinen Vater absetzen konnte, fuhren sie in ein
Gewitter. Er stellte die Scheibenwischer schneller und schneller, aber
schließlich waren sie dem Regen nicht mehr gewachsen. Unter einer Brücke fuhr
er auf den Seitenstreifen und hielt. Von einem Augenblick auf den nächsten
verstummte das Prasseln des Regens auf das Auto. Die Reifen der anderen Autos
zischten auf der nassen Straße. Sonst war es still.
»Ich
könnte...« Er hatte einen CD -Spieler
im Auto, aber eigentlich keine CDs. Wenn
er alleine fuhr, arbeitete er, telefonierte und diktierte. Wenn er müde war
und wach bleiben wollte, tat's auch das Radio. Aber nach dem gestrigen Konzert
hatte er eine Aufnahme des Chors mit Bachs Motetten gekauft. Er legte sie ein.
Wieder
ergriff ihn die Süße der Musik. Jetzt hörte er auch Bruchstücke des Texts. »Du bist mein, weil ich dich fasse und dich nicht, oh mein
Licht, aus dem Herzen lasse« - so hätte er es nicht gesagt, aber so hatte er
empfunden, als er seine Frau liebte und wusste, dass auch sie ihn liebte. »Wir
sind wie das Gras, eine Blume, fallend Laub, so der Wind drüber weht, ist es
nicht mehr da« - wie gut kannte er das Gefühl, wie oft stellte es sich bei
seinem von Auftrag zu Auftrag, von Termin zu Termin hetzenden Leben ein. »Unter
deinem Schirmen bin ich von den Stürmen aller Feinde frei« - so fühlte er sich,
beschirmt von der Autobahnbrücke und frei von den Stürmen des Gewitters, dieses
Gewitters und der Gewitter, die noch kommen würden.
Er
wollte eine Bemerkung über seine Freude an den Texten machen und sah zu seinem
Vater. Er saß, wie er immer saß, aufrecht, die Beine übereinandergeschlagen,
die Arme auf die Lehnen gelegt und die Hände von den Lehnen hängend. Ihm
liefen die Tränen übers Gesicht.
Zuerst
konnte er die Augen nicht von seinem weinenden Vater lassen. Dann fand er sich
aufdringlich, wandte sich ab und sah in den Regen. Sah auch sein Vater in den
Regen? In den Regen und auf die Straße und zu den Autos, die hinter der Brücke
durch eine Pfütze fuhren, von Wassergüssen überschüttet und Wasserfontänen
aufsprühend? Oder verschwand seinem Vater alles hinter dem Schleier seiner Tränen?
Nicht nur der Regen und die Straße und die Autos, sondern alles, was sich nicht
in Kontinuität und Gleichmaß fügte? Hatten ihn seine Kinder mit ihren
Wandlungen, ihren Irrungen und ihrem Aufbegehren so traurig gemacht, dass er
sie nicht sehen mochte? »Schade, dass sie größer werden«, hatte sein Vater zu
seiner Tochter gesagt, als er ihre zweijährigen Zwillinge bei Mutters siebzigstem Geburtstag kennenlernte.
Sie
standen unter der Autobahnbrücke, bis das Gewitter vorbei und bis die Musik zu
Ende war. Der Vater wischte sich mit dem Taschentuch übers Gesicht. Dann
faltete er das Taschentuch ordentlich zusammen. Er lächelte seinen Sohn an.
»Ich glaube, wir können fahren.«
Die Reise nach
Süden
1
Der
Tag, an dem sie aufhörte, ihre Kinder zu lieben, war nicht anders als andere
Tage. Als sie sich am nächsten Morgen fragte, was den Verlust der Liebe
ausgelöst hatte, fand sie keine Antwort. Hatten ihre Rückenschmerzen sie
besonders gequält? Hatte das Scheitern an einer einfachen häuslichen Aufgabe
sie besonders gedemütigt? Hatte eine Auseinandersetzung mit dem Personal sie
besonders gekränkt? So etwas Kleines musste es gewesen
Weitere Kostenlose Bücher