Schlink,Bernhard
sein. Etwas Großes
passierte in ihrem Leben nicht mehr.
Aber
was es auch war, der Verlust war da. Sie hatte den Hörer abgenommen, um ihre
Tochter anzurufen und ihren Geburtstag zu besprechen, die Gäste, den Ort, das
Essen, und legte wieder auf. Sie wollte nicht mit ihrer Tochter sprechen. Sie
wollte auch mit keinem anderen Kind sprechen. Sie wollte ihre Kinder nicht
sehen, nicht an ihrem Geburtstag und nicht davor und nicht danach. Dann saß sie
neben dem Telefon und wartete, dass die Lust zum Telefonieren sich einstellen
würde. Aber sie stellte sich nicht ein. Als am Abend das Telefon klingelte,
nahm sie nur ab, weil ihre Kinder sonst besorgt bei der Pforte angerufen und
das Personal auf sie gehetzt hätten. Da log sie lieber gleich, sie könne nicht
reden, sie habe Besuch.
Sie
hatte nichts an ihren Kindern auszusetzen. Sie hatte es gut mit ihnen. Auch die
anderen Frauen im Stift sagten ihr, wie gut sie es mit ihnen habe. Wie
wohlgeraten ihre Kinder seien: der eine Sohn ein hoher Richter und der andere
ein Museumsdirektor, die eine Tochter mit einem Professor verheiratet und die
andere mit einem bekannten Dirigenten! Wie aufmerksam sie sich um sie
kümmerten! Sie kamen zu Besuch, ließen zwischen dem Besuch des einen und des anderen
Kinds nicht zu viel Zeit verstreichen, blieben für ein oder zwei Nächte, holten
sie manchmal für zwei oder drei Tage zu sich und brachten zum Geburtstag ihre
Familien mit. Sie halfen ihr bei Steuererklärung, Versicherung und Beihilfe,
begleiteten sie zum Arzt und beim Kauf von Brille und Hörgerät. Sie hatten ihre
Familien, ihre Berufe, ihre Leben. Aber sie ließen ihre Mutter daran
teilhaben.
So
ging sie mit dem Gefühl einer Verstimmung ins Bett, wie man mit einer
Magenverstimmung und Rennie oder dem Anflug einer Erkältung und Aspirin ins
Bett geht, um am nächsten Morgen aufzuwachen, als sei nichts gewesen. Sie hatte
kein Mittel gegen Liebesverstimmung, aber sie machte Tee, eine Mischung aus
Kamille und Minze, und war gewiss, am nächsten Morgen werde alles wieder in
Ordnung sein. Aber am nächsten Morgen war ihr die Vorstellung, ihre Kinder zu
sehen oder am Telefon zu sprechen, so fremd wie am Abend davor.
2
Sie
machte den Spaziergang, den sie jeden Morgen machte: vorbei an Schule und Post,
Apotheke und Obstladen, durch die Siedlung zum Wald, am Hang bis zum Bierer Hof
und wieder zurück. Die Strecke bot immer wieder den Blick in die Ebene, den sie
liebte. Sie war eben und in einer Stunde zu bewältigen. Der Arzt hatte ihr
gesagt, sie müsse jeden Tag mindestens eine Stunde laufen.
Der
Regen der letzten Tage hatte nachts aufgehört, der Himmel war blau und die Luft
frisch. Der Tag würde heiß werden. Sie hörte die Geräusche des Walds: den Wind
in den Bäumen, Specht und Kuckuck, knackendes Geäst und raschelnde Blätter.
Sie hielt nach Rehen und Hasen Ausschau; sie waren hier zahlreich und ohne
Scheu. Sie hätte den Wald gerne gerochen; noch regennass und schon sonnenwarm
roch er am besten. Aber sie konnte seit einigen Jahren nicht mehr riechen. Der
Geruchssinn war eines Tages einfach ausgefallen, wie die Liebe zu den Kindern.
Ein Virus, hatte der Arzt gesagt.
Mit
dem Geruchssinn war auch der Geschmackssinn verlorengegangen. Essen hatte ihr
nie viel bedeutet, und dass sie nicht mehr schmecken konnte, war nicht schlimm.
Schlimm war, dass sie die Natur nicht mehr riechen konnte, nicht nur den Wald,
auch die blühenden Obstbäume, die Blumen auf dem Balkon und in der Vase, den
warmen und trockenen Straßenstaub, auf den die ersten Regentropfen fallen.
Außerdem
empfand sie, nicht mehr riechen zu können, als Schmach. Dass man riechen kann,
gehört einfach dazu. Wie Sehen und Hören und Laufen und Lesen und Schreiben und
Rechnen. Sie hatte immer funktioniert, und auf einmal funktionierte sie nicht
mehr, nicht weil ihr etwas von außen zugestoßen wäre, sondern weil ihre
Ausstattung versagt hatte. Dazu kam die Angst, sie würde stinken. Sie erinnerte
sich an ihre Besuche bei ihrer Mutter im Altersheim. »Sie können nicht mehr
riechen«, hatte ihre Mutter ihr erklärt, als sie eine Bemerkung über den Geruch
der anderen Alten gemacht hatte. Stank sie jetzt auch so? Sie war auf peinliche
Sauberkeit bedacht und benutzte ein Eau de Toilette, das ihre Enkelinnen mochten.
»Wie gut du riechst, Großmutter!« Aber man weiß nie, und wenn man zu viel
davon nimmt, stinkt man auch nach Eau de Toilette.
Außer
ihrem Arzt wusste niemand, dass sie nicht mehr riechen und
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