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Schlink,Bernhard

Schlink,Bernhard

Titel: Schlink,Bernhard Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sommerlügen
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jetzt sitzt,
weil ich mit dem Gegenüber so wenig zu tun haben will, wie du jetzt mit mir zu
tun haben willst.« Am liebsten wäre er aufgestanden und gegangen.
    Ihm
kam eine Szene aus der Kindheit in den Sinn. Er mochte zehn gewesen sein, als
er eine kleine schwarze Katze nach Hause brachte, die der Bruder eines
Spielgefährten mit dem ganzen Wurf im Fluss ertränken sollte. Er kümmerte sich
um die Katze, erzog sie zur Reinlichkeit, fütterte sie, spielte mit ihr, liebte
sie, und sein Vater, der sie nicht mochte, tolerierte sie. Aber als die Familie
eines Abends beim Essen saß und die Katze auf den Flügel sprang, stand sein
Vater auf und wischte sie mit einer angelegentlichen Bewegung seines Arms weg,
als sei sie Staub. Ihm war, als habe sein Vater ihn selbst weggewischt, und er
war so verletzt und verzweifelt, dass er aufstand, die Katze nahm und aus der
Wohnung ging. Aber wohin sollte er gehen? Nach drei Stunden in der Kälte kam er
wieder nach Hause, sein Vater machte ihm schweigend die Tür auf, und ihm
gegenübertreten zu müssen war so schlimm wie von ihm weggewischt zu werden.
Nach wenigen Wochen bekam er von der Katze Asthma, und sie wurde weggegeben.
    Sein
Vater sah ihn an. »Ich denke, ihr kennt mich. Die Bekehrung - es war nicht wie
beim jungen Martin Luther, neben dem der Blitz in den Baum schlug. Du musst
nicht meinen, dass ich dir etwas Dramatisches vorenthielte.« Dann sah er auf
die Uhr. »Ich sollte ein bisschen ruhen. Wann müssen wir los?«
     
    8
     
    Er
wusste sich mit seinem Vater in der Liebe zu Bachs Musik einig, hatte sich
aber immer nur für die weltliche Musik interessiert. Sein Bach war der Bach der Goldberg-Variationen, der
Suiten und Partiten, des Musikalischen
Opfers und der Konzerte. Als Kind war er mit den Eltern
in der Matthäus-Passion und
im Weihnachtsoratorium gewesen,
hatte sich gelangweilt und daraus die Lehre gezogen, dass Bachs geistliche
Musik nichts für ihn sei. Wenn sie nicht in das Programm der Reise mit dem
Vater gepasst hätten, wäre er nicht auf den Gedanken gekommen, sich Motetten
anzuhören.
    Aber
als er in der Kirche saß und die Musik hörte, ergriff sie ihn. Er verstand die
Texte nicht, und weil er sich durch die Lektüre nicht von der Musik ablenken
lassen wollte, las er sie auch nicht im Programm mit. Er wollte die Süße der
Musik auskosten. Süße war ihm noch nie zu Bach eingefallen und durfte einem,
so fand er, zu Bach auch nicht einfallen. Aber Süße war, was er empfand,
manchmal schmerzlich, manchmal beseligt, bei den Chorälen zutiefst versöhnt. Er
erinnerte sich an die Antwort, die sein Vater auf die Frage, warum er Bach
liebe, gegeben hatte.
    In
der Pause traten sie vor die Kirche und sahen in das Getriebe des sommerlichen
Sonntagnachmittags. Touristen schlenderten über den Platz oder saßen an den
Tischen vor den Cafes und Restaurants, Kinder rannten um den Brunnen, in der
Luft lagen Stimmengewirr und der Geruch von Rostbratwürsten. Die Welt in der
Kirche und die Welt vor der Kirche hätten nicht gegensätzlicher sein können.
Aber es irritierte ihn nicht. Er war auch mit diesem Gegensatz versöhnt.
    Wieder
redeten sie nicht, nicht in der Pause, nicht auf der Fahrt zum Hotel. Beim Abendessen
wurde sein Vater gesprächig und dozierte über Bachs Motetten, ihre Rolle bei
Trauungen und Beerdigungen, ihre Aufführung ursprünglich wohl mit, aber seit
dem 19. Jahrhundert
ohne Orchester, ihren Platz im Repertoire der Thomaner. Nach dem Essen schlug
sein Vater einen Spaziergang am Strand vor, und sie gingen in die Dämmerung und
kamen in der Dunkelheit zurück.
    »Nein«,
sagte er, »ich weiß nicht, wer du bist.«
    Sein
Vater lachte leise. »Oder es gefällt dir nicht.« Im Hotel fragte er: »Wann
müssen wir morgen aufbrechen?«
    »Ich
muss morgen Abend noch nach Hause und würde hier gerne um acht losfahren.
Können wir um halb acht frühstücken?«
    »Ja.
Schlaf gut.«
    Wieder
setzte er sich auf den Balkon vor seinem Zimmer. Das war's. Auf der Heimfahrt
könnte er seinen Vater weiter nach Studium und Beruf fragen. Aber warum sollte
er? Was er erfahren wollte, würde er nicht erfahren.
    Er
hatte die Lust verloren, seinen Vater zu fragen. Nach dem vielen gemeinsamen
Schweigen machte ihm die Vorstellung einer schweigsamen Heimfahrt auch keine
Angst mehr.
     
    9
     
    Sie
fuhren nicht in völligem Schweigen. Da waren die Schilder an der Autobahn, die
auf Sehenswürdigkeiten hinwiesen, zu denen dem Vater eine Erinnerung oder eine
Belehrung einfiel.

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