Schlink,Bernhard
schmecken konnte.
Sie lobte das Essen, wenn ihre Kinder sie ausführten, und roch an den Sträußen,
die sie ihr mitbrachten. Wenn sie ihnen die Blüten auf dem Balkon zeigte, sagte
sie: »Riecht mal, sie riechen wunderbar!«
So
musste sie es auch mit der verlorenen Liebe halten. Zum Sehen und Hören und
Riechen und Laufen und Lesen und Schreiben und Rechnen gehört auch, dass man
seine Kinder und Enkel und Enkelinnen liebt. Sich dem Telefonieren verweigern,
wie sie es gestern getan hatte - nein, das würde sie sich nicht noch einmal
erlauben. Der Geburtstag würde normal gefeiert werden, und die Besuche würden
normal weitergehen. Wieder kam eine Erinnerung hoch. Als sie ein kleines
Mädchen war, hatte sie ihre Mutter, die einen Witwer mit zwei Kindern und
schwierigen, fordernden Schwiegereltern, Schwägern und Schwägerinnen geheiratet
hatte, gefragt, ob sie diese Verwandten der ersten Frau, um die sie sich
kümmern musste, eigentlich liebe.
Ihre
Mutter hatte gelächelt. »Ja, mein Liebes.«
»Aber...«
»Liebe
ist keine Sache des Gefühls, sondern des Willens.«
Sie
hatte es über Jahre und Jahrzehnte geschafft und schaffte es nicht mehr. Wenn
man nur richtig will, kann man aus einer Pflicht eine Neigung und aus einer
Verantwortung eine Liebe machen. Aber sie hatte keine Verantwortung mehr für
ihre Kinder, keine Pflichten gegenüber ihren Enkeln und Enkelinnen. Da war
nichts, was sie zur Liebe hätte wollen können. Aber die Kinder, die so
wohlgeraten waren, zu kränken und die anderen Frauen im Stift zu irritieren und
sich selbst zu blamieren bestand kein Anlass.
Sie
hatte ihren Spaziergang beschwingt begonnen. Die Leere, nachdem die Liebe zu
den Kindern abhandengekommen war, hatte sie erschreckt, aber auch erleichtert.
Sie war beschwingt, wie man mit hohem Fieber beschwingt sein kann oder nach
langem Fasten - es ist ein Zustand, der behoben werden muss und doch wohltut.
Als sie auf der Bank beim Bierer Hof saß, merkte sie, wie sie schwer und müde
wurde und wieder auf die Erde kam.
Sollte
sie den Geburtstag hier im Bierer Hof feiern? Als sie noch verheiratet war,
waren ihr Mann und sie manchmal auf einen Spaziergang und einen Kaffee
hierhergefahren. Es waren Stunden, die er sich vom Beruf und sie sich von den
Kindern freinahm, um über das zu reden, worüber zu reden der Alltag keinen Raum
ließ. Bis er eines Tages mit ihr hierherfuhr, um ihr zu beichten, dass er seit
zwei Jahren mit seiner Assistentin schlief.
Seitdem
war angebaut, umgebaut, verschönt worden. Der Hof, damals ärmlich, sah
stattlich aus, und innen würde gewiss auch nichts mehr an die Stube erinnern,
in der ihr Mann ihr gegenübersaß und rumdruckste und für sein großes Herz, das
zwei Frauen liebte, bemitleidet werden wollte. Die Erinnerung, die so lange weh
getan hatte, tat nicht mehr weh. Auch jetzt fühlte sie nicht das Mitleid, das
ihr Mann gesucht hatte, aber eine traurige Gleichgültigkeit gegenüber diesem
Menschen, der sich's im Leben immer leichtgemacht und dabei gemeint hatte, er
mache es sich schwer und kämpfe und ringe. Sie hätte sich die späten Jahre der
Ehe gerne erspart. Aber er bestand darauf, bei ihr zu bleiben, bis das letzte
Kind die Schule abschloss. Im letzten Jahr beendete er sogar die Affäre mit
der Assistentin. Für beide Opfer von seiner Frau nicht gehörig belohnt, begann
er die nächste Affäre mit der nächsten Assistentin.
Sie
stand auf und machte sich auf den Heimweg. Ja, das Leben würde weitergehen, als
sei nichts geschehen. Wenn sie aufhören könnte, für die anderen zu leben, um
endlich ihr eigenes Leben zu leben! Aber dafür war sie nicht nur zu alt. Sie
hatte keine Ahnung, was ihr eigenes Leben war. Endlich machen, woran sie Freude
hatte? Die einzige Freude, die sie gelernt hatte, war, mit Liebe ihrer
Verantwortung zu genügen und ihre Pflicht zu erfüllen. Dann gab es noch die
Natur. Aber die konnte sie nicht mehr riechen.
3
Am
Morgen ihres Geburtstags machte sie sich schön. Lila Strickkostüm, weiße Bluse
mit weißer Stickerei und weißer Schleife, lila Schuhe. Die Friseurin, zu der
sie sonst ging, kam und legte das graue Haar in Locken. »Wenn ich ein älterer
Herr wäre, würde ich Ihnen den Hof machen. Und wenn ich Ihre Enkelin wäre,
würde ich Sie stolz meinen Freundinnen zeigen.«
Alle
kamen. Die vier Kinder, die vier Schwiegerkinder und die dreizehn Enkelinnen
und Enkel. Auf dem Weg zum Bierer Hof fanden die Söhne und Schwiegersöhne
zusammen und die Töchter und
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