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Schloss aus Glas

Schloss aus Glas

Titel: Schloss aus Glas Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jeanette Walls
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erleichtert, dass ich mich nun damit abschleppte. Wir gingen weiter, und er warf mir andauernd Seitenblicke zu.
    »Ihr Mädchen aus West Virginia seid ganz schön zäh«, sagte
    er.
    »Das hast du richtig erkannt«, erwiderte ich.
    Evan brachte mich zu einem deutschen Restaurant namens Zum Zum. Lori stand hinter der Theke, vier Bierkrüge in jeder Hand, die Haare zu zwei Knoten gebunden, und sprach mit einem starken deutschen Akzent, weil ihr das, wie sie mir später erklärte, mehr Trinkgeld einbrachte. Sie stellte mich den Männern an einem der Tische als ihre Schwester vor, und sie hoben ihre Bierkrüge und prosteten mir zu.
    Da ich kein Wort Deutsch konnte, sagte ich: »Grazi!«
    Sie lachten. Lori hatte erst die Hälfte ihrer Schicht hinter sich, also schaute ich mir ein wenig die Gegend an. Einige Male verlor ich die Orientierung und musste nach dem Weg fragen. In den letzten Monaten war ich mehrfach vor den unhöflichen New Yorkern gewarnt worden. Und da war was dran, wie ich nun selbst erfuhr. Wenn ich Leute auf der Straße ansprach, gingen viele einfach kopfschüttelnd weiter, und die, die stehen blieben, schauten dich zunächst gar nicht an. Sie blickten die Straße hinunter, mit verschlossener Miene. Aber sobald sie merkten, dass du ihnen nichts andrehen oder sie anbetteln wolltest, wurden sie augenblicklich freundlich. Sie blickten dir in die Augen und erklärten dir in aller Ruhe den Weg. Sie zeichneten dir notfalls sogar eine Karte. New Yorker, so begriff ich, taten nur so, als wären sie unfreundlich.
    Später fuhren Lori und ich mit der U-Bahn nach Greenwich Village und gingen zum Evangeline, dem Frauenhotel, in dem sie wohnte. In der ersten Nacht wurde ich um drei Uhr wach und sah den Himmel leuchtend orange schimmern. Ich dachte, es gäbe irgendwo einen Großbrand, aber am Morgen klärte Lori mich auf. Der orangefarbene Schimmer, sagte sie, rühre daher, dass sich das Licht von den Straßen und den Gebäuden in der verschmutzten Luft breche. Der Nachthimmel habe hier immer diese Farbe, deshalb könne man in New York nie die Sterne sehen. Aber die Venus war kein Stern, und ich fragte mich, ob ich wenigstens die sehen konnte.
    Gleich am nächsten Tag fand ich einen Job in einem Hamburger-Laden auf der Fourteenth Street. Abzüglich Steuern und Sozialversicherung verdiente ich über achtzig Dollar die Woche. Ich hatte mir so oft vorgestellt, wie es in New York sein würde, aber ich hätte nie gedacht, dass einem die Chancen geradezu in den Schoß fielen. Abgesehen davon, dass ich eine peinliche rot-gelbe Uniform mit passendem Schlapphut tragen musste, gefiel mir die Arbeit. Die Stoßzeiten mittags und abends waren immer aufregend. Dann bildeten sich an der Theke lange Schlangen, die Kassierer riefen Bestellungen über die Mikros, die Jungs am Grill schaufelten Hamburger auf das Förderband über den glühenden Grillstäben, und alle hetzten von der Beilagentheke zur Getränkestation und zum Infrarot-Pommes-Wärmer. Wenn Not am Mann war, sprang der Geschäftsführer immer mal wieder ein. Wir bekamen auf alle Speisen und Getränke zwanzig Prozent Rabatt, und in den ersten Wochen dort gönnte ich mir jeden Tag zum Lunch einen Cheeseburger und einen Schokoladen-Milchshake.
    Das Evangeline war eine Übergangslösung für junge Frauen ohne feste Bleibe, und noch im Hochsommer suchte Lori uns eine erschwingliche Wohnung in einer bezahlbaren Gegend -in der South Bronx. Das gelbe Jugendstilhaus war früher sicherlich mal eine feine Adresse gewesen, aber jetzt war die Fassade mit Graffiti besprüht, und die gesprungenen Spiegel in der Eingangshalle wurden mit Isolierband zusammengehalten. Doch es hatte das, was Mom als kräftiges Rückgrat bezeichnete.
    Unsere Wohnung war größer als das ganze Haus in der Little Hobart Street und wesentlich schicker. Sie hatte glänzendes Eichenparkett, einen kleinen Vorraum, das so genannte Foyer, von dem zwei Stufen nach unten ins Wohnzimmer führten, wo ich schlief, und seitlich in ein weiteres Zimmer, das Lori bekam. Wir hatten auch eine Küche mit einem funktionstüchtigen Kühlschrank und einem selbstzündenden Gasherd, für den man keine Streichhölzer brauchte. Wenn man an dem Schalter drehte, tickte es, und schon loderte die kreisrunde blaue Flamme durch die winzigen Löcher in dem Brenner auf. Doch am schönsten fand ich das Badezimmer. Es hatte einen schwarzweißen Fliesenboden, eine Toilette mit einer kräftig rauschenden Spülung, eine Wanne, in der man ganz

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