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Schloss aus Glas

Schloss aus Glas

Titel: Schloss aus Glas Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jeanette Walls
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mit ihren Träumen von einem Leben als Künstlerin nichts würde. Jetzt hatte Mom das Gefühl, einzugestehen, dass ihre Mutter, die nie an das künstlerische Talent ihrer Tochter geglaubt hatte, Recht behalten hatte. Abends war sie mürrisch und murmelte halblaut vor sich hin. Morgens blieb sie einfach liegen und stellte sich krank, rieb sich heimlich die Stirn heiß, damit sie uns vormachen konnte, sie hätte Fieber. Lori, Brian und ich mussten dafür sorgen, dass sie aufstand, sich anzog und rechtzeitig zur Schule ging.
    »Ich bin eine erwachsene Frau«, sagte Mom fast jeden Morgen. »Wieso kann ich nicht machen, was ich will?«
    »Unterrichten ist was Sinnvolles und macht Spaß«, sagte Lori. »Du wirst noch auf den Geschmack kommen.«
    Erschwerend hinzu kam, dass die anderen Lehrer und die Schulleiterin, Miss Beatty, Mom für eine schlechte Lehrerin hielten. Sie steckten während des Unterrichts öfter mal den Kopf zur Tür herein, und dann sahen sie die Schüler Fangen spielen und mit Radiergummis um sich werfen, während Mom sich vor der Klasse wie ein Kreisel drehte und Kreidestücke aus den Händen fliegen ließ, um die Zentrifugalkraft zu demonstrieren.
    Miss Beatty, die ihre Brille an einer Kette um den Hals trug und sich einmal pro Woche in einem Schönheitssalon in Winnemucca frisieren ließ, hielt Mom an, ihre Schüler zu disziplinieren. Miss Beatty verlangte von Mom auch, jede Woche
    einen Unterrichtsplan vorzulegen, Ordnung im Klassenraum zu halten und die Hausaufgaben unverzüglich zu korrigieren. Aber Mom war desorganisiert, schrieb die falschen Daten in die Unterrichtspläne oder verlor die Hausaufgaben.
    Als Miss Beatty Mom mit Kündigung drohte, sahen Lori, Brian und ich keine andere Möglichkeit, als Mom unter die Arme zu greifen. Nach Schulschluss ging ich in ihren Klassenraum und wischte die Tafel, staubte den Tafellappen aus und hob Papier vom Boden auf. Abends halfen Lori, Brian und ich ihr, die Hausaufgaben und Klassenarbeiten zu korrigieren. Mom ließ uns aber nur die Tests benoten, bei denen die Schüler »richtig« oder »falsch« ankreuzen oder Antworten in ein leeres Feld schreiben mussten - die Aufsätze korrigierte sie selbst, weil es da nicht nur eine richtige Antwort gab. Mir machte das Korrigieren Spaß. Mir gefiel das Gefühl, etwas zu können, womit Erwachsene ihr Geld verdienten. Lori half Mom auch bei den Unterrichtsplänen. Sie achtete darauf, dass Mom sie richtig ausfüllte, und verbesserte Moms Rechtschreib- und Mathefehler.
    »Mom, Halloween wird mit zwei l, Doppel e und am Ende ohne e geschrieben«, sagte Lori, radierte dann das Wort aus und schrieb es neu.
    Mom staunte, wie intelligent Lori war.
    »Lori hat lauter Einsen«, sagte sie einmal zu mir.
    »Ich auch«, sagte ich.
    »Ja, aber du musst dich dafür anstrengen.«
    Und Mom hatte Recht, Lori war wirklich sehr intelligent. Ich glaube, Lori half Mom für ihr Leben gern. Lori war nicht besonders sportlich, und sie streifte auch nicht so gern wie Brian und ich durch die Gegend, aber sie fand alles toll, was mit Stiften und Papier zu tun hatte. Wenn Mom und Lori mit den Unterrichtsplänen fertig waren, blieben sie oft noch an dem Spulentisch sitzen, zeichneten sich gegenseitig oder schnitten Fotos von Tieren, Landschaften und Menschen mit runzligen Gesichtern aus Illustrierten aus, die dann in Moms Ordner für potenzielle Gemäldemotive kamen.
    Lori verstand Mom besser als sonst irgendeiner. Es machte ihr nichts aus, dass Mom sie anschrie, wenn Miss Beatty in die Klasse kam, um sich Moms Unterricht anzuschauen, nur um der Schulleiterin zu beweisen, dass sie imstande war, ihre Schüler zur Ordnung zu rufen. Einmal ließ Mom Lori sogar nach vorn kommen und schlug sie mit einem Holzstock.
    »Hast du denn Unsinn gemacht?«, fragte ich Lori, als ich davon erfuhr.
    »Nein«, sagte Lori.
    »Und wieso hat Mom dich dann geschlagen?«
    »Einen von uns musste sie bestrafen, und sie wellte den anderen Kindern keine Angst einjagen«, sagte Lori.
    Als Mom zu unterrichten anfing, dachte ich, wir könnten uns jetzt vielleicht neue Anziehsachen leisten, in der Schulcafeteria zu Mittag essen und uns sogar ab und zu einen kleinen Luxus erlauben wie die Klassenfotos, die einmal im Jahr in der Schule gemacht wurden. Mom und Dad hatten noch nie das Geld für ein Klassenfoto gehabt, obwohl Mom ein paar Mal heimlich einen Schnappschuss aus dem Packen stibitzt hatte, ehe sie ihn zurückgab. Trotz Moms Gehalt kauften wir die Klassenfotos in diesem

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