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Schloss aus Glas

Schloss aus Glas

Titel: Schloss aus Glas Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jeanette Walls
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ihre Autokotflügel und Zaunpfähle gelehnt stehen oder auf den Ladeflächen ihrer Pickups sitzen, als wären sie auf einem Rodeo.
    Plötzlich flog eins von Moms Ölbildern oben aus dem Fenster. Als Nächstes kam ihre Staffelei. Die Menge unten stob auseinander, um nicht getroffen zu werden. Dann erschienen Moms Füße im Fenster, gefolgt von ihrem übrigen Körper. Sie hing da oben am Fenster, mit wild strampelnden Beinen. Dad hielt sie an den Armen fest, während sie versuchte, ihm ins Gesicht zu schlagen.
    »Hilfe!«, kreischte Mom. »Er will mich umbringen!«
    »Verdammt noch mal, Rose Mary, komm wieder rein!«, sagte Dad.
    »Tu ihr nichts!«, schrie Lori.
    Mom baumelte hin und her. Ihr gelbes Baumwollkleid war ihr hoch über die Taille gerutscht, und die Leute unten konnten ihre weiße Unterhose sehen. Die war schon alt und ausgeleiert, und ich hatte Angst, sie könnte ganz runterfallen. Ein paar von den Erwachsenen riefen irgendwas, aus Angst, dass Mom abstürzen könnte, aber eine Gruppe von Kindern fand, dass Mom aussah wie ein Schimpanse, der am Baum hängt, und sie fingen lachend an, Affengeräusche zu machen und sich unter den Achseln zu kratzen. Brians Gesicht lief dunkel an, und er ballte die Fäuste. Ich hätte sie auch am liebsten geschlagen, aber ich hielt Brian zurück.
    Mom strampelte so heftig, dass ihre Schuhe runterfielen, und es schien, als könnte Dad sie nicht mehr lange halten oder sogar selbst aus dem Fenster gezogen werden. Lori sah Brian und mich an. »Kommt.« Wir rannten ins Haus und nach
    oben und hielten Dad an den Beinen fest, damit Mom ihn mit ihrem Gewicht nicht mitriss. Schließlich zog er Mom wieder ins Zimmer, und sie sank auf den Boden.
    »Er wollte mich umbringen«, schluchzte Mom. »Euer Vater will mich sterben sehen.«
    »Ich hab sie nicht gestoßen«, widersprach Dad. »Ich schwöre bei Gott, das hab ich nicht. Sie ist gesprungen.« Er stand über Mom, hatte die Arme gehoben, die Hände geöffnet und beteuerte seine Unschuld.
    Lori streichelte Mom das Haar und trocknete ihr die Tränen. Brian lehnte sich gegen die Wand und schüttelte den Kopf.
    »Jetzt ist ja alles gut«, sagte ich immer und immer wieder.
    Am nächsten Morgen stand Mom, die sonst immer lange schlief, schon mit uns Kindern auf und ging zur Mittelschule von Battie Mountain, die direkt gegenüber der Grundschule Mary S. Black lag. Sie bewarb sich um eine Anstellung und wurde vom Fleck weg genommen, weil sie einen Abschluss als Lehrerin hatte und weil in Battie Mountain immer Lehrermangel herrschte. Die wenigen Lehrer im Ort waren nicht gerade das Gelbe vom Ei, wie Dad oft sagte, und trotz der Personalknappheit wurde hin und wieder noch einer entlassen. Meine eigene Lehrerin, Miss Rice, flog erst raus, als die Schulleiterin sie eines Tages mit einer geladenen Flinte in der Schule erwischte. Miss Rice sagte, sie habe ihre Schüler nur dazu anhalten wollen, die Hausaufgaben zu machen.
    Ungefähr zur selben Zeit, als Miss Rice gefeuert wurde, erschien Loris Lehrerin einfach nicht mehr zum Unterricht, und Mom bekam Loris Klasse zugewiesen. Moms Schüler fanden sie richtig nett. Sie hatte die gleiche Haltung zur schulischen Erziehung wie zur Erziehung ihrer eigenen Kinder. Sie fand, Regeln und Disziplin engten die Menschen ein und Kinder könnten ihr Potenzial am besten entfalten, wenn man ihnen möglichst viel Freiheit ließ. Es kümmerte sie nicht, wenn Schüler zu spät kamen oder ihre Hausaufgaben nicht machten. Und wenn sie sich austoben wollten, hatte sie auch nichts dagegen, vorausgesetzt, es wurde niemand dabei verletzt.
    Ständig nahm Mom ihre Schüler in den Arm und versicherte ihnen, wie wunderbar und toll sie sie fand. Sie schärfte den mexikanischen Kindern ein, sie sollten sich von niemandem sagen lassen, sie wären weniger wert als weiße Kinder. Den
    Navajo- und Apachenkindern sagte sie, sie sollten stolz sein auf ihre edle indianische Herkunft. Schüler, die als Problemkinder oder als langsam galten, wurden bei Mom richtig gut in der Schule. Manche liefen ihr nach wie herrenlose Hunde.
    Doch so beliebt sie bei ihren Schülern auch war, Mom war nicht gern Lehrerin. Sie musste Maureen, die noch keine zwei war, von einer Frau beaufsichtigen lassen, deren Mann wegen Drogenhandel im Gefängnis saß. Doch der eigentliche Grund für ihre Unzufriedenheit war der, dass Grandma Smith, die selbst Lehrerin gewesen war, Mom zu der Lehrerausbildung gedrängt hatte, damit sie einen richtigen Beruf hätte, falls es

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