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Schloss aus Glas

Schloss aus Glas

Titel: Schloss aus Glas Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jeanette Walls
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ging sie in zerrissener oder mit Farbe bespritzter Kleidung in die Kirche. Die innere Haltung war entscheidend, nicht die äußere Erscheinung, sagte sie, und wenn dann die ersten Kirchenlieder gesungen wurden, zeigte sie der versammelten Gemeinde ihre innere Haltung, indem sie die Worte mit so lauter Stimme hinausschmetterte, dass sich die Leute in den Bankreihen vor uns umdrehten und sie anstarrten.
    Die Kirchenbesuche waren besonders peinlich, wenn Dad mitkam. Dad war als Baptist erzogen worden, aber er hatte keine Beziehung zur Religion und glaubte nicht an Gott. Er glaube an Wissenschaft und Vernunft, sagte er, nicht an Aberglaube und Voodoo. Aber als Mom Dad kennen lernte, hatte sie sich ausbedungen, dass ihre gemeinsamen Kinder katholisch erzogen wurden und er an hohen kirchlichen Feiertagen höchstpersönlich mit in die Kirche kam.
    Dad saß wütend und unruhig in der Kirchenbank und musste sich auf die Zunge beißen, während der Geistliche erzählte, wie Jesus Lazarus von den Toten auferweckt hatte, und die Gläubigen sich zur heiligen Kommunion anstellten, um den Leib Christi zu essen und sein Blut zu trinken. Wenn Dad es dann gar nicht mehr aushalten konnte, rief er irgendwas, um den Priester zu provozieren. Dad war dabei nicht aggressiv. Er äußerte seine Argumente zwar lautstark, aber eigentlich ganz freundlich, und er nannte den Priester Padre. »He, Padre«, fing er an. Meistens achtete der Priester nicht auf Dad und versuchte seine Predigt fortzusetzen, doch Dad ließ nicht locker. Er hielt dem Priester entgegen, dass Wunder aus wissenschaftlicher Sicht unmöglich seien, und wenn der Priester ihn dann immer noch ignorierte, wurde er wütend und schrie irgendwas über den unehelichen Sohn von Papst Pius X. oder über die Bestechungsskandale von Papst Leo oder über die Simonie von Papst Nikolaus III. oder über die Morde, die während der spanischen Inquisition im Namen der Kirche begangen worden waren. Aber, so sagte er, was konnte man von einer Institution, die von ledigen, Kleider tragenden Männern geführt wurde, schon anderes erwarten. An dieser Stelle wurden wir dann vom Küster aufgefordert zu gehen.
    »Keine Sorge, Gott versteht das«, sagte Mom. »Er weiß, dass euer Vater ein Kreuz ist, das wir tragen müssen.«
    Allmählich ging Dad das Stadtleben auf die Nerven. »Ich fühle mich langsam wie eine Ratte im Labyrinth«, sagte er zu mir. Er hasste es, wie durchorganisiert alles in Phoenix war, mit Stechkarten, Bankkonten, Telefonrechnungen, Parkuhren, Steuerformularen, Weckern, Elternsprechtagen, Volkszählern und Meinungsforschern, die an die Tür klopften und neugierige Fragen stellten. Er hasste alle Menschen, die in klimatisierten Häusern mit fest verschlossenen Fenstern wohnten und in klimatisierten Autos zu ihren Achtstundenjobs in klimatisierten Bürogebäuden fuhren, die wiederum in seinen Augen nichts anderes als aufgetakelte Gefängnisse waren. Er brauchte diese Leute nur auf dem Weg zur Arbeit zu sehen, und schon wurde er richtig nervös und fühlte sich eingesperrt. Immer häufiger klagte er, dass wir alle verweichlichten, die Bequemlichkeiten des Stadtlebens uns viel zu abhängig machten und dass wir die Nähe zur natürlichen Ordnung der Welt verlören.
    Dad hatte einfach Sehnsucht nach der Natur. Er brauchte es, unter freiem Himmel herumzuziehen und inmitten ungezähmter Tiere zu leben. Er fand, dass die Nähe zu Bussarden und Kojoten und Schlangen der Seele gut tat. Das sei die richtige Lebensweise, sagte er, in Harmonie mit der Natur, wie die Indianer, nicht dieser Macht-euch-die-Erde-Untertan-Scheiß, ein Wahnsinn sei das, den ganzen verdammten Planeten beherrschen zu wollen, die Wälder abzuholzen und jedes Lebewesen zu töten, das sich nicht dressieren lässt.
    Eines Tages hörten wir im Radio, dass eine Frau in einer Stadtrandsiedlung einen Berglöwen hinter ihrem Haus entdeckt und prompt die Polizei verständigt hatte, die das Tier erschoss. Dad wurde so wütend, dass er mit der Faust durch eine Wand schlug. »Der Berglöwe hatte genauso ein Recht auf Leben wie diese frustrierte Zimtziege«, sagte er. »Man darf nicht einfach etwas töten, bloß weil es wild ist.«
    Dad kochte eine Weile vor sich hin, trank ein Bier, und dann forderte er uns alle auf, ins Auto zu steigen.
    »Wo fahren wir hin?«, fragte ich. Wir hatten keinen einzigen Ausflug gemacht, seit wir nach Phoenix gezogen waren, und das fehlte mir.
    »Ich werde euch zeigen«, sagte er, »dass kein Tier, wie

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