Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Schloss aus Glas

Schloss aus Glas

Titel: Schloss aus Glas Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jeanette Walls
Vom Netzwerk:
wartete dort, bis es Zeit zum Schlafengehen war. Brian und Maureen blieben die meiste Zeit draußen und spielten, und auch Lori hielt Abstand zum Haus. Mom malte in ihrem Atelier. Keiner sprach viel über das, was da vor sich ging. Eines Abends, als wir beim Essen saßen, stieß Dad einen besonders grässlichen Schrei aus. Ich sah Mom an, die in ihrer Suppe rührte, als wäre es ein ganz normaler Abend, und da verlor ich schließlich die Beherrschung.
    »Tu was!«, schrie ich sie an. »Du musst Dad doch irgendwie helfen!«
    »Dein Vater kann sich nur selbst helfen«, sagte Mom. »Nur er weiß, wie er seine eigenen Dämonen bekämpfen muss.«
    Als die Woche fast um war, hörte Dads Delirium endlich auf, und er bat uns, zu ihm ins Schlafzimmer zu kommen und mit ihm zu reden. Er saß auf ein Kissen gestützt, blasser und dünner, als ich ihn je gesehen hatte. Er nahm den Wasserkanister, den ich ihm hinhielt. Seine Hände zitterten so heftig, dass er ihn kaum halten konnte, und Wasser rann ihm übers Kinn, während er trank.
    Ein paar Tage später konnte Dad wieder gehen, aber er hatte keinen Appetit, und seine Hände zitterten noch immer. Ich sagte zu Mom, dass ich vielleicht einen schlimmen Fehler gemacht hatte, aber Mom meinte, manchmal müsse man noch kränker werden, ehe es wieder aufwärts ging. Wenige Tage später wirkte Dad fast wieder normal, nur dass er unsicher geworden war, beinahe schüchtern. Er lächelte uns Kinder oft an und drückte unsere Schulter, und manchmal stützte er sich leicht bei uns ab.
    »Ich frage mich, wie unser Leben jetzt wohl wird«, sagte ich zu Lori.
    »Nicht anders als vorher«, sagte sie. »Er hat doch schon öfter versucht aufzuhören, aber er hat nie durchgehalten.«
    »Diesmal doch.«
    »Woher willst du das wissen?«
    »Weil es sein Geschenk für mich ist.«
    Dad brauchte den ganzen Sommer, um sich zu erholen. Tagelang saß er unter den Orangenbäumen und las. Als der Herbst kam, hatte er fast seine alte Kraft wiedergewonnen. Um sein neues Leben als trockener Alkoholiker zu feiern und um etwas Abstand zwischen sich und seine Stammkneipen zu bringen, beschloss er, dass der Walls-Clan einen ausgedehnten Camping-Urlaub im Grand Canyon machen sollte. Wir würden die Park Rangers meiden und uns irgendwo eine Höhle am Fluss suchen. Wir würden schwimmen und angeln und unseren Fang am Lagerfeuer braten. Mom und Lori könnten malen, und Dad, Brian und ich könnten die Klippen hochklettern und die geologischen Schichten im Canyon studieren. Es würde wie früher sein. Wir Kinder hätten es nicht nötig, zur Schule zu gehen. Er und Mom könnten uns besser unterrichten als diese saublöden Lehrer. »Und du, Bergziege, kannst eine Steinsammlung zusammenstellen, wie sie die Welt noch nicht gesehen hat«, sagte Dad zu mir.
    Alle fanden die Idee großartig. Brian und ich waren so begeistert, dass wir durchs ganze Wohnzimmer tanzten. Wir packten Decken ein, Konservenbüchsen, Feldflaschen für Wasser, Angelschnur, die lavendelblaue Decke, die Maureen überallhin mitnahm, Loris Papier und Stifte, Moms Staffelei und Leinwände und Pinsel und Farben. Was nicht mehr in den Kofferraum passte, verstauten wir auf dem Dach. Wir nahmen auch Moms wunderschönen Schießbogen mit, den aus Obstholz mit Intarsien, weil Dad meinte, man könne nie wissen, auf was für wilde Tiere man in diesen Canyon-Höhlen traf. Er versprach Brian und mir, dass wir wie waschechte Indianerkinder mit Pfeil und Bogen schießen könnten, wenn wir zurückkamen. Falls wir überhaupt zurückkamen. Wer weiß, vielleicht würden wir uns ja dafür entscheiden, für immer im Grand Canyon zu leben.
    Früh am nächsten Morgen ging es los. Kaum hatten wir die letzten Vorortsiedlungen nördlich von Phoenix hinter uns gelassen, wurde der Verkehr schwächer, und Dad fuhr immer schneller und schneller. »Es gibt kein schöneres Gefühl, als unterwegs zu sein«, sagte er.
    Wir waren inzwischen draußen in der Wüste, und die Telefonmasten zischten nur so vorbei. »He, Bergziege«, brüllte er, »was meinst du, wie viel Sachen ich mit der Karre hier schaffe?«
    »Lichtgeschwindigkeit!«, sagte ich. Ich beugte mich vor und sah zu, wie die Nadel am Tacho über die Zahlen kroch. Wir fuhren neunzig Meilen die Stunde.
    »Pass auf, gleich ist die kleine Nadel nicht mehr zu sehen«, sagte Dad.
    Ich sah, wie sich sein Bein bewegte, als er das Gaspedal durchtrat. Wir kurbelten die Scheiben runter, und Straßenkarten und Zeichenpapier und Zigarettenasche

Weitere Kostenlose Bücher