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Schloss aus Glas

Schloss aus Glas

Titel: Schloss aus Glas Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jeanette Walls
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wir ins Bergland, kletterten immer höher und weiter in das Appalachen-Gebirge hinein. Gelegentlich legten wir eine Pause ein, damit das Oldsmobile nach den steilen, kurvigen Straßen etwas verschnaufen konnte. Es war November. Die Blätter waren braun geworden und fielen von den Bäumen, und ein kalter Nebel umhüllte die Berghänge. Anstelle von Bewässerungsgräben, die man im Südwesten sah, waren hier überall Flüsse und Bäche, und die Luft fühlte sich anders an. Sie war sehr still, schwerer und dicker, und irgendwie dunkel. Ohne dass wir es uns erklären konnten, bewirkte sie, dass wir alle ruhig wurden.
    In der Abenddämmerung näherten wir uns einer Biegung, wo handgemalte Reklametafeln für Autowerkstätten und Kohlenlieferanten an die Bäume am Straßenrand genagelt waren. Wir fuhren um die Biegung herum und befanden uns unversehens in einem tiefen Tal. Holzhäuser und kleine Ziegelbauten säumten den Fluss und verteilten sich in unregelmäßigen Flecken über beide Berghänge.
    »Willkommen in Welch!«, verkündete Mom.
    Wir fuhren durch dunkle, gewundene Straßen und hielten dann vor einem großen, heruntergekommenen Haus. Es stand auf der abschüssigen Seite der Straße, und wir mussten eine Treppe hinunter, um zur Haustür zu gelangen. Als wir auf die Veranda polterten, öffnete eine Frau die Tür. Sie war gewaltig, hatte eine teigige Haut und ein regelrechtes Dreifachkinn. Ihr glattes graues Haar wurde von Klammern zusammengehalten, und eine Zigarette baumelte zwischen ihren Lippen.
    »Willkommen daheim, mein Sohn«, sagte sie und umarmte Dad lange.
    Sie wandte sich Mom zu. »Nett von dir, dass ich meine Enkelkinder noch zu Gesicht kriege, bevor ich sterbe«, sagte sie, ohne zu lächeln.
    Sie nahm die Zigarette nicht aus dem Mund, als sie jeden von uns rasch und unbeholfen umarmte. Ihre Wange war klebrig von Schweiß.
    »Schön, dich kennen zu lernen, Grandma«, sagte ich.
    »Nenn mich nicht Grandma«, knurrte sie. »Ich heiß Erma.«
    »Sie findet, Grandma hört sich alt an«, sagte ein Mann, der hinter ihr aufgetaucht war. Er sah zerbrechlich aus und hatte kurzes weißes Haar, das senkrecht abstand. Er nuschelte so stark, dass ich ihn kaum verstehen konnte. Ich wusste nicht, ob das sein Dialekt war oder ob er vielleicht vergessen hatte, sein Gebiss einzusetzen. »Ich heiß Teddy, aber ihr könnt Grandpa zu mir sagen«, sprach er weiter. »Macht mir nichts aus, ein Grandpa zu sein.«
    Hinter Grrndpa erschien ein rotgesichtiger Mann, dessen wilder roter Haarschopf unter einer Baseballmütze mit einem Logo der Firma Maytag hervorquoll. Er trug eine schwarzweiß karierte Jacke, aber kein Hemd darunter. Er sagte unablässig, er sei unser Onkel Stanley, und er wollte gar nicht mehr aufhören, mich zu herzen und abzuküssen, als wäre ich jemand, den er innig liebte und den er ewig nicht gesehen hatte. Sein Atem roch nach Whiskey, und wenn er sprach, konnte man die rosa Wülste seines zahnlosen Zahnfleisches sehen.
    Ich starrte Erma und Stanley und Grandpa an und suchte nach irgendeiner Ähnlichkeit mit Dad, aber ich konnte keine entdecken. Vielleicht war das ja einer von Dads Streichen, dachte ich. Bestimmt hatte Dad die seltsamsten Leute im Ort überredet, sich als seine Familie auszugeben. Gleich würde er anfangen zu lachen und uns sagen, wo seine richtigen Eltern wohnten, und da würden wir dann hingehen, und eine lächelnde Frau mit duftendem Haar würde uns begrüßen und uns dampfende Teller mit Grießbrei vorsetzen. Ich sah Dad an. Er lächelte, aber er zupfte unentwegt an der Haut an seinem Hals, als wäre er nervös.
    Wir folgten Erma und Stanley und Grandpa ins Haus. Drinnen war es kalt, und die Luft roch nach Moder und Zigaretten und ungewaschener Wäsche. Wir drängten uns um einen dickbauchigen, gusseisernen Kohleofen in der Mitte des Wohnzimmers und wärmten uns die Hände. Erma zog
    eine Flasche Whiskey aus der Tasche ihres Kittels, und Dad sah zum ersten Mal, seit wir Phoenix verlassen hatten, glücklich aus.
    Erma bugsierte uns in die Küche, wo sie, wie sie sagte, gerade das Abendessen machte. Eine Glühbirne baumelte von der Decke und warf ein hartes Licht auf die vergilbten Wände, die mit einer dünnen Fettschicht überzogen waren. Erma schob einen gebogenen Metallhaken unter eine runde Eisenplatte auf einem alten Kohleherd, hob sie hoch, nahm mit der anderen Hand einen Schürhaken von der Wand und stocherte in den heißen, rot glühenden Kohlen herum. Dann rührte sie in einem

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