Schloss aus Glas
den Fluss zu bestaunen, der durch den Ort floss. Er bewegte sich träge, warf kaum Wellen. Dad sagte, dass der Fluss Tug hieß. »Vielleicht können wir im Sommer drin angeln und schwimmen«, sagte ich. Dad schüttelte den Kopf. In der Gegend gäbe es keine Kanalisation, erklärte er, und wenn die Leute hier ihre Klospülung betätigten, wurde alles direkt in den Tug geleitet. Manchmal, so erzählte er weiter, stieg der Fluss über die Ufer, und das Wasser reichte bis zu den Baumspitzen. Dann zeigte er auf das Klopapier in den Bäumen am Flussufer. Der Tug, sagte Dad, hätte von allen Flüssen Nordamerikas den höchsten Anteil an Fäkalbakterien.
»Was heißt fäkal?«, fragte ich.
Dad betrachtete den Fluss einen Moment lang. »Scheiße«, sagte er.
Dad ging mit uns die Hauptstraße entlang durch den Ort. Sie war schmal und wurde auf beiden Seiten von alten, dicht an dicht stehenden Ziegelgebäuden gesäumt. Die Geschäfte, die Reklametafeln, die Bürgersteige, die Autos, alles war mit einem Film aus schwarzem Kohlenstaub überzogen, sodass die Stadt beinahe einfarbig wirkte, wie eine alte, handkolorierte Fotografie. Welch war schäbig und heruntergekommen, aber man konnte sehen, dass es mal ein aufstrebendes Städtchen gewesen war. Auf einem Hügel stand ein prächtiges Gerichtsgebäude aus Kalkstein mit einem großen Uhrenturm. Gegenüber davon war eine stattliche Bank mit Bogenfenstern und einer schmiedeeisernen Tür.
Man konnte auch sehen, dass die Bewohner von Welch noch immer bemüht waren, sich ein bisschen Lokalpatriotismus zu bewahren. Ein Schild in der Nähe der einzigen Ampel verkündete, dass Welch Bezirkshauptstadt von McDowell County war und dass in McDowell County jahrelang mehr Kohle gefördert worden war als an irgendeinem anderen vergleichbaren Ort auf der Welt. Gleich daneben prahlte ein anderes Schild damit, dass Welch den größten städtischen Freiluftparkplatz in ganz Nordamerika besaß.
Aber die fröhlichen Reklamen, die auf die Flanken von Gebäuden wie dem Tic Toc Diner oder dem Pocahontas-Kino aufgemalt waren, hatte der Zahn der Zeit blass und beinahe unleserlich gemacht. Dad sagte, dass die schlimmen Zeiten in den fünfziger Jahren begonnen hatten. Da hatte das Unglück zugeschlagen und sich eingenistet. Präsident John F. Kennedy war kurz nach seiner Wahl nach Welch gekommen und hatte persönlich auf der McDowell Street die ersten Lebensmittelmarken verteilt, um den ungläubigen Durchschnittsamerikanern vor Augen zu führen, dass es auch in ihrem Land bitterarme Menschen gab, die nicht genug zu essen hatten.
Die Straße durch Welch, so erzählte Dad uns, führte nur noch weiter hinauf in die nassen, bedrohlichen Berge und zu anderen sterbenden Bergarbeiterstädtchen. Es verirrten sich nur noch wenige Fremde nach Welch, und wenn doch, dann fast immer nur, um irgendein neues Unglück zu bringen - um Arbeiter zu entlassen, um ein Bergwerk zu schließen, um jemanden aus seinem schuldenbelasteten Haus zu vertreiben, um sich die wenigen freien Stellen unter den Nagel zu reißen. Deshalb mochten die Einheimischen Fremde nicht besonders.
Die Straßen waren an diesem Morgen überwiegend still und menschenleer, nur dann und wann sahen wir eine Frau mit Lockenwicklern im Haar oder eine Gruppe von Männern in T-Shirts mit einem Werbeaufdruck für Motorenöl, die in einem Hauseingang herumlungerten. Ich wollte ihre Blicke auffangen, um ihnen zuzunicken und sie anzulächeln, damit sie merkten, dass wir nur gute Absichten hatten, aber sie schauten nicht mal in unsere Richtung. Doch sobald wir an ihnen vorbei waren, spürte ich, wie sie uns mit Blicken verfolgten.
»Meine Güte, mit der Stadt ist es aber ganz schön bergab gegangen, seit wir das letzte Mal hier waren«, sagte Mom. Dad war vor fünfzehn Jahren, als sie frisch verheiratet waren mal auf einen kurzen Besuch mit ihr hier gewesen.
Er stieß ein kurzes, schnaubendes Lachen aus und sah sie an, als wollte er sagen, hab ich dir doch gesagt, oder? Doch stattdessen schüttelte er nur den Kopf.
Plötzlich glitt ein breites Lächeln über Moms Gesicht. »Ich wette, in Welch gibt es keine Künstler«, sagte sie. »Keine Konkurrenz. Hier müsste meine Karriere richtig in Schwung kommen.«
Am nächsten Tag ging Mom mit Brian und mir zur Grundschule, die so ziemlich am Ortsrand lag. Mit uns im Schlepptau marschierte sie voller Optimismus ins Büro des Schulleiters und teilte ihm mit, dass er das Vergnügen haben werde, zwei der
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