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Schloss aus Glas

Schloss aus Glas

Titel: Schloss aus Glas Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jeanette Walls
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intelligentesten, kreativsten Kinder Amerikas aufnehmen zu dürfen.
    Der Schulleiter musterte Mom über den Rand seiner schwarzen Brille hinweg, blieb aber hinter dem Schreibtisch sitzen. Mom erklärte, dass wir Phoenix ein ganz kleines bisschen überstürzt verlassen hatten, Sie wissen ja, wie das so ist, und dass sie leider bei dem ganzen Trubel vergessen hatte, solche Dinge wie Schulzeugnisse und Geburtsurkunden einzupacken.
    »Aber ich gebe Ihnen mein Wort, dass Jeannette und Brian besonders aufgeweckt sind, sogar überdurchschnittlich begabt.« Sie lächelte ihn an.
    Der Schulleiter, der bis dahin kaum etwas gesagt hatte, musterte Brian und mich mit unseren ungewaschenen Haaren und unserer viel zu dünnen Wüstenkleidung. Sein Gesicht nahm einen verdrossenen, skeptischen Ausdruck an. Er fixierte mich, schob sich die Brille auf der Nase hoch und sagte etwas, das sich anhörte wie: »Wievies ach ma siebn?«
    »Wie bitte?«, fragte ich.
    »Ach ma siebn!«, wiederholte er lauter.
    Ich war total verwirrt und sah Mom an.
    »Sie versteht Ihren Dialekt nicht«, erklärte Mom dem Schulleiter. Er runzelte die Stirn. Mom wandte sich mir zu. »Er fragt, wie viel acht mal sieben ist.«
    »Ach so!«, rief ich. »Sechsundfünfzig! Acht mal sieben ist sechsundfünfzig!« Dann rasselte ich alle möglichen mathematischen Gleichungen herunter.
    Der Schulleiter starrte mich verständnislos an.
    »Er kommt nicht mit«, erklärte Mom mir. »Du musst langsamer reden.«
    Der Schulleiter stellte mir noch ein paar Fragen, die ich nicht verstand, und nachdem Mom übersetzt hatte, gab ich ihm Antworten, die er nicht verstand. Dann war Brian dran, und es gab das gleiche Verständigungsproblem.
    Der Schulleiter kam zu dem Schluss, dass Brian und ich beide ein bisschen begriffsstutzig waren und einen Sprachfehler hatten, was es anderen sehr schwer machen würde, uns zu verstehen. Er teilte uns in die Förderklassen für lernschwache Schüler ein.
    »Ihr müsst sie eben einfach mit eurer Intelligenz beeindrucken«, sagte Mom, als Brian und ich uns am nächsten Tag auf den Schulweg machten. »Habt keine Hemmungen, schlauer zu sein als die anderen.«
    In der Nacht vor unserem ersten Schultag hatte es geregnet, und als Brian und ich an dem Morgen vor der Schule aus dem Bus stiegen, versanken unsere Schuhe in den schlammigen Spurrillen, die der Bus hinterlassen hatte. Ich hielt Ausschau nach einem Völkerballfeld, weil ich hoffte, mit meiner überragenden Ballbeherrschung, die ich in Emerson erworben hatte, ein paar neue Freundinnen zu gewinnen, aber ich konnte auf dem Schulhof keins entdecken, noch nicht mal eine Wippe oder ein Klettergerüst.
    Seit unserer Ankunft in Welch war es kalt gewesen, und tags zuvor hatte Mom die Secondhand-Mäntel ausgepackt, die sie in Phoenix für uns gekauft hatte. Als ich sie daraufhinwies, dass an meinem sämtliche Knöpfe abgerissen waren, sagte sie, der kleine Schönheitsfehler werde durch die Tatsache, dass der Mantel ein Importprodukt aus Frankreich sei und zu hundert Prozent aus Lammwolle bestehe, mehr als
    wettgemacht. Während wir auf die Schulglocke warteten, stand ich mit Brian am Rand des Pausenhofs und hielt die Arme verschränkt, um meinen Mantel geschlossen zu halten. Die anderen Kinder starrten uns an, tuschelten, blieben aber auf Abstand, als wüssten sie noch nicht recht, ob sie Jäger oder Gejagte waren. Ich hatte gedacht, in West Virginia gäbe es nur weiße Hillbillys, und staunte nun, wie viele schwarze Kinder in diese Schule gingen. Ein großes schwarzes Mädchen mit kräftigem Kinn und Mandelaugen lächelte mich an, und ich nickte und lächelte zurück, aber dann me.kte ich, dass ihr Lächeln irgendwie boshaft war. Ich verschränkte die Arme noch fester vor der Brust, um die Kälte abzuwehren.
    Ich ging in die fünfte Klasse, daher hatte ich jeden Tag etliche Fächer bei verschiedenen Lehrern. In der ersten Stunde hatte ich Geschichte, eins meiner Lieblingsfächer. Ich war gespannt wie ein Flitzebogen und bereit, sofort die Hand zu heben, wenn der Lehrer eine Frage stellte, die ich beantworten konnte, aber er stand bloß vorn neben einer Karte von West Virginia, auf der alle fünfundfünfzig Gountys eingezeichnet waren, und tat die ganze Stunde über nichts anderes, als auf einzelne Gountys zu zeigen, die die Schüler dann benennen müssten. Bei einem anderen Lehrer sahen wir uns einen Film von dem Football-Match an, das die Highschool von Welch ein paar Tage zuvor gespielt hatte. Keiner der

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