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Schloss aus Glas

Schloss aus Glas

Titel: Schloss aus Glas Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jeanette Walls
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einer Grundschule in Davy, einer Kohlensiedlung zwölf Meilen nördlich von Welch, wo sie eine Förderklasse unterrichten sollte. Da wir noch immer kein Auto hatten, organisierte die Schulleiterin für Mom eine Mitfahrgelegenheit bei einer Kollegin namens Lucy Jo Rose, die frisch vom Bluefield State College kam und so dick war, dass sie sich kaum hinter das Lenkrad ihres braunen Dodge Dart quetschen konnte. Lucy Jo, die von der Schulleiterin mehr oder weniger genötigt worden war, diesen Fahrdienst zu übernehmen, fand Mom auf Anhieb unsympathisch. Sie sprach auf der Fahrt kaum ein Wort mit Mom, spielte stattdessen Barbara-Mandrell-Kassetten ab und rauchte eine Zigarette nach der anderen. Sobald Mom ausgestiegen war, sprühte sie Moms Sitz ostentativ mit Desinfektionsspray ein. Mom ihrerseits hielt Lucy Jo für jämmerlich ungebildet. Als Mom einmal Jackson Pollock erwähnte, sagte Lucy Jo, sie sei polnischer Abstammung und würde Mom dringend bitten, keine abfälligen Bezeichnungen für Polen zu benutzen.
    Mom hatte die gleichen Probleme wie damals an der Schule in Battie Mountain; sie bekam weder den Papierkram geregelt, noch konnte sie ihre Schüler disziplinieren. Mindestens einmal die Woche bekam sie morgens einen Anfall und weigerte sich, zur Arbeit zu gehen, und Lori, Brian und ich mussten sie wieder beruhigen und nach unten zur Straße bringen, wo Lucy Jo mit finsterer Miene in dem Dart wartete, aus dessen verrostetem Auspuff blauer Rauch quoll.
    Aber wir hatten wenigstens Geld. Mom verdiente rund siebenhundert Dollar im Monat, und als ich das erste mal ihren graugrünen Gehaltsscheck sah, mit dem abtrennbaren Abschnitt an der Seite und den aufgedruckten Unterschriften, dachte ich, unsere Sorgen hätten ein Ende. An jedem Zahltag ging Mom mit uns Kindern zu der großen Bank gegenüber vom Gerichtsgebäude, um den Scheck einzulösen. Nachdem der Kassierer ihr das Geld gegeben hatte, verzog sich Mom in eine Ecke der Bank und stopfte es in einen Socken, den sie mit einer Sicherheitsnadel an ihrem BH befestigte. Dann eilten wir zum Vermieter und zu den Stadtwerken und bezahlten unsere Rechnungen mit Zehnern und Zwanzigern. Die Angestellten wendeten die Augen ab, wenn Mom den Socken aus ihrem BH angelte und allen in Hörweite erklärte, so wäre sie sicher vor Taschendieben.
    Mom kaufte auch elektrische Heizöfen und einen Kühlschrank, das heißt, sie zahlte die Geräte an und ließ sie zurücklegen. Jeden Monat gingen wir zu dem Laden und zahlten ein paar Dollar ab. Bis zum Winter, so dachten wir, würden die Sachen dann uns gehören. Mom stotterte auch immer noch wenigstens eine »Extravaganz« ab, etwas, das wir nicht unbedingt brauchten - eine Seidendecke mit Quasten oder eine rote Kristallvase -, weil sie meinte, um sich wirklich reich zu fühlen, müsse man in teure Nebensächlichkeiten investieren. Anschließend gingen wir zum Supermarkt unten am Berg und stockten unsere Vorräte an Grundnahrungsmitteln wie Bohnen und Reis, Milchpulver und Konserven auf. Mom kaufte immer die Dosen, die eine Delle hatten, auch wenn sie nicht runtergesetzt waren, weil sie meinte, dass auch die Liebe brauchten.
    Zu Hause kippten wir Moms Portemonnaie auf der Schlafcouch aus und zählten das restliche Geld. Es müssten noch einige hundert Dollar übrig sein, mehr als genug, um unsere Ausgaben bis zum Monatsende zu decken, dachte ich immer. Aber Monat für Monat war das Geld alle, bevor der nächste Gehaltsscheck kam, und ich musste erneut die Mülleimer in der Schule nach Essbarem durchforsten.
    Irgendwann an einem Monatsende im Herbst sagte Mom, wir hätten nur noch einen Dollar fürs Abendessen. Das reichte für eine Familienpackung Eiscreme, und Eiscreme, so meinte Mom, sei nicht nur köstlich, sondern habe auch jede Menge Kalzium, was gut für unsere Knochen wäre. Wir kauften das Eis, und Brian öffnete die Packung, teilte das Eis in fünf Portionen auf, und ich erhob Anspruch darauf, mir die erste auszusuchen. Mom sagte, wir sollten es bewusst genießen, weil wir kein Geld mehr für das Essen am nächsten Tag hatten.
    »Mom, wo ist das ganze Geld geblieben?«, fragte ich, während wir uns das Eis schmecken ließen,
    »Weg, weg, weg!«, sagte sie. »Es ist alles weg.«
    »Aber wie kommt das?«, fragte Lori.
    »Ich habe ein Haus voller Kinder und einen Schluckspecht als Mann«, sagte Mom. »Da über die Runden zu kommen ist schwerer, als ihr denkt.«
    So schwer konnte es nicht sein, dachte ich. Andere Mütter schafften das

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