Schloss der Engel: Roman (German Edition)
Juliane und Marisa grinsten ebenso breit wie die Jungs, als sie meine Unsicherheit bemerkten.
Während Florian die Technik vorführte, blieb ich bei Max. An seinem Arm fühlte ich mich aufgehoben, und nach einiger Zeit wurden auch meine Schritte sicherer. Schließlich ließ Max mich los, und ich war auf mich allein gestellt. Es klappte. Schlittschuhlaufen war gar nicht so schwierig – wenn man es konnte.
Ich schaffte es nur ein paar Meter. Dann stolperte ich, verlor das Gleichgewicht und landete auf meinen Knien. Das Eis knirschte, als ich aufschlug. Das Geräusch fuhr mir in die Knochen – bis unter die Schädeldecke. Meine Kopfschmerzen setzten wieder ein. Schwarze Punkte flimmerten vor meinen Augen. Ein Mädchen starrte mich traurig an. Von unten. Durchs Eis!
Ich war kurz davor, hysterisch loszukreischen, als sich eine Hand auf meinen Rücken legte.
»Das passiert schon mal«, tröstete mich Max. »Gib mir deine Hand. Ich helf dir auf die Beine.«
Ich griff nach seinem Arm wie nach einem Rettungsanker.
»Lynn, was ist los?! Hast du dir wehgetan?«
»Nein, aber ...« Ich verstummte. Das Mädchen war verschwunden. Das Eis unter meinen Knien war spiegelblank, und undurchsichtig – unmöglich, da hindurchzusehen. Ich musste mich selbst gesehen haben.
»Lynn, ist alles okay?«
»Ja, danke. Mir geht’s gut.«
»Und dein Kopf?« Marisa ließ sich nicht so leicht täuschen. Als sie herausfand, dass ich Kopfschmerzen hatte, bestand sie darauf, das Schlittschuhlaufen zu beenden.
Sie begleitete mich ins Gelbe Haus zurück und sorgte dafür, dass ich am Abend früh zu Bett ging und eine Kopfschmerztablette nahm. Ihre Wirkung hielt nicht lange an.
Wie beim letzten Mal begann mein Traum am Meer. Neben mir die vertraute Gestalt mit den grün funkelnden Augen, diemein Herz höherschlagen ließ. Langsam wandelte sich das blaue Wasser zu einer spiegelnden Fläche, und ich rannte voller Freude hinaus auf das vom Mondlicht beschienene Eis. Ausgelassen schlitterte ich über den glitzernden See, bis die Eisdecke aufriss und mich hinabzog in die schwarze Tiefe. Grausame Kälte und erstickende Dunkelheit empfingen mich.
Obwohl ich wusste, dass es ein Traum war, konnte ich dem Sog nicht entrinnen. Ich war mir sicher, dass ich sterben würde, und gab auf, gegen das Unvermeidliche anzukämpfen. Erlag dem Schmerz, der sich quälend, wie ein zu enges Band, um mein Herz gelegt hatte – und ertrank in der Finsternis.
Keuchend erwachte ich aus meinem Albtraum. Noch immer tobte die unerträgliche Kälte in mir, schmerzte in meinen Lungen, als hätten sie tatsächlich keinen Sauerstoff bekommen. Ich schnappte nach Luft, aber ich konnte nicht atmen. Meine Kehle war wie zugeschnürt und ließ nicht den leisesten Hauch passieren.
Ein Asthmaanfall?
Meine Panik wuchs angesichts meiner Hilflosigkeit.
Ungelenk kletterte ich aus dem Bett und torkelte zu der schlafenden Hannah hinüber. Sie musste jemanden holen, der mir half. Kurz bevor meine zitternde Hand sie berührte, gab mich die eisige Umklammerung frei. Ich sackte auf meine Knie und rang nach Luft. Jeder weitere Atemzug vertrieb die quälende Enge.
Völlig aufgelöst kauerte ich vor Hannahs Bett. Wenn sie jetzt aufgewacht wäre, hätte sie mich nicht nur für verrückt erklärt, sondern auch zum Gespött der ganzen Schule gemacht. Doch Hannah schlief friedlich wie ein Baby.
Es dauerte lange, bis ich die Kraft fand, mich aufzurichten. Mit dem Rücken gegen Hannahs Bett gelehnt, saß ich auf dem Boden und wartete, bis das flaue Gefühl aus meinem Körper verschwunden war. Dann schlüpfte ich in meine Kleider undverließ das Gebäude. Die frische Morgenluft beruhigte mich auch dieses Mal.
»Hallo Lynn, hast du gut geschlafen?« Marisa runzelte die Stirn, während sie mich genauer betrachtete. »Wohl kaum! Du hast dunkelblaue Schatten unter den Augen!«
»Ich hab beim Lesen die Zeit vergessen – dank dem Buch, das du mir gegeben hast«, redete ich mich heraus. Meinen Albtraum und den Erstickungsanfall erwähnte ich nicht. Sie würde mir nur wieder eine Tablette aufzwingen oder mich zur Krankenschwester schleppen, wenn ich mich weigerte.
»Du hättest mir sagen sollen, dass du keine Gruselgeschichten verträgst. Dann hätte ich dir ein anderes Buch ausgeliehen.« Marisa schaute mich belustigt an. »Hilfst du mit, die Bar für Florians Geburtstagsfeier zu dekorieren?« Ich versprach mitzuhelfen, froh über die willkommene Ablenkung.
Wir feierten bis zur Internatssperrstunde.
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