Schloss der Engel: Roman (German Edition)
mindestens zwei blaue Flecken musste ich einstecken. Ich blieb ruhig – was mir extrem schwerfiel. Aber Gelassenheit würde Hannah sicher mehr ärgern als jeder Wutanfall.
Natürlich war sie die Schnellste beim Gerangel um Raffael. Mit siegessicherem Lächeln blickte sie auf ihre Untertanen – einschließlich mir – und ließ sich von Raffael, der sich als ausgezeichneter Tangotänzer entpuppte, über das Parkett schieben.
Max war noch solo, als ich ihn endlich erreichte. Er war mir eine große Hilfe, da ich – außer in der Diskothek – noch nie getanzt hatte. Geduldig bugsierte er mich in die richtige Richtung, wenn ich mal wieder einen anderen Weg einschlagen wollte.
In der Pause kam Juliane mit erhitztem Gesicht an unseren Tisch und stürzte ihre Cola hinunter. Auch ihr war Hannahs Getrickse und wie dicht sie mit Raffael getanzt hatte, nicht entgangen. Sie kochte vor Wut.
Gut, dass ich andere Probleme hatte – wie meine Gedächtnislücke zum Beispiel. Vielleicht gab es da aber auch gar nichts Besonderes, und ich sollte endlich aufhören, mir meinen Kopf darüber zu zerbrechen.
Ich warf Max einen auffordernden Blick zu, als die Jungs dieWahl hatten. Raffael, der am Nebentisch Platz genommen hatte, kam ihm zuvor.
»Darf ich bitten?«, fragte er mit einer eleganten Verbeugung und hielt mir seine Hand entgegen.
Ich nickte – schließlich war uns vorher ausdrücklich erklärt worden, dass es unhöflich war, abzulehnen – und stand auf, ohne Juliane anzusehen. Ihren Gesichtsausdruck konnte ich mir auch so vorstellen. Vielleicht sollte ich sie mit Raffael verkuppeln, dann wäre sie sicher ein wenig entspannter.
»Ich habe zugesehen, wie du tanzt«, begann Raffael, nachdem er mich an der Hand genommen und wir die ersten gemeinsamen Schritte hinter uns hatten.
»Ach ja? Kaum zu glauben, dass du bei Hannahs Zuwendung dazu in der Lage warst.«
Raffaels Mund verzog sich zu einem breiten Grinsen. Gleichzeitig hob er fragend eine Augenbraue.
Ich stutzte. Dachte er etwa, ich wäre eifersüchtig? Ich geriet aus dem Konzept und tanzte nach hinten anstatt zur Seite. Raffael glich meinen Fehltritt gekonnt aus und verstärkte den Druck seiner Hände.
»Mit der richtigen Führung würdest du schnell lernen. Aber ich lasse meiner Partnerin natürlich viel lieber ihren Freiraum. Vor allem, wenn sie so viel Geschick beim Tanzen aufweist wie du.«
Sein zweideutiges Kompliment beschäftigte mich. Ich freute mich, dass es etwas gab, bei dem ich mich nicht allzu blöd anstellte. Gleichzeitig fragte ich mich, ob er mich für völlig naiv hielt und glaubte, mit dieser Art Anmache bei mir punkten zu können.
Erst als ich am Abend in meinem Bett lag, der verärgerten Hannah die Schlafende vorspielte und noch einmal über die Tanzstunde nachdachte, fiel mir die Ungereimtheit an Raffaels Kompliment auf: Ich konnte gut tauchen und ein wenig klettern.Außerdem malte und modellierte ich gern, weshalb ich auch das Kunstprojekt gewählt hatte. Seit wann glaubte ich eigentlich, ungeschickt zu sein?
Kapitel 19
Traumgesichter
E s dauerte lange, bis ich einschlief. Meine Kopfschmerzen waren wieder da, und ich hoffte, sie auch ohne Medikament loszuwerden – keine gute Entscheidung. Die Nacht zog sich unendlich in die Länge und mit ihr meine ebenso verworrenen wie erschreckenden Träume. Mal befand ich mich mit Philippe Händchen haltend am Meer, mal betrachteten mich diese eigenartig grünen Augen, bei deren Anblick tausend Schmetterlinge in mir aufflatterten. Gerade als ich begann, die Schmetterlinge zu genießen, verwandelten sie sich in ebenso viele Kieselsteine, die mich hinabzogen in finsterste Dunkelheit, wo die Bestie auf mich wartete.
Schweißgebadet schreckte ich aus meinem Albtraum. Noch eine Stunde bis zur Weckzeit, doch ich hatte genug vom Schlafen. Lautlos, um Hannah nicht aufzuwecken, zog ich mich an und schlich aus dem Zimmer. Bei der Mauer am See wartete ich auf den anbrechenden Tag. Das Licht der aufgehenden Sonne über dem gefrorenen See – und vielleicht auch die Schmerztablette – verjagte die Schatten der Nacht und mit ihnen verschwanden auch meine Traumdämonen.
Marisa und Max überredeten mich am Nachmittag zum Schlittschuhlaufen. Es war mein erstes Mal. Mit geborgten Schlittschuhen an den Füßen und Max an meiner Seite betrat ich mit wackeligen Schritten den See. Es fühlte sich komisch an: unter mir ein wenig Eis und darunter eisig kaltes Wasser. Aber die anderen schafften es schließlich auch.
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