Schloss der Engel: Roman (German Edition)
Magenschmerzen nachweist? Du darfst dich nur nicht draußen erwischen lassen, sonst gibt’s Arbeitsdienst.«
Ich widerstand am nächsten Tag, mein Kunstprojekt zu schwänzen und mich auf die kommende Klausur vorzubereiten. Deutsch würde schon irgendwie hinhauen.
»Meinst du nicht, dass die Flügel etwas zu groß geraten sind?« Frau Kluck, unsere Kunsterzieherin, inspizierte die Skizze für meine Projektarbeit mit einem abschätzenden Blick durch ihr rot gerahmtes Brillengestell.
»Nein, ich glaub nicht«, erwiderte ich selbstbewusst. Ich mochte die Größe der Flügel. Sie passten zu der Engelsskulptur, die ich modellieren wollte.
Frau Kluck verzog nachdenklich ihre akkurat gezupften Augenbrauen. »Du solltest dir eine Vorlage suchen – bei Tintoretto vielleicht, der hat viele Engel gemalt – und nicht ganz so viel von deiner Fantasie miteinfließen lassen. Vor allem bei den Flügeln!«
Ich ersparte mir einen Kommentar. Frau Kluck zog weiter, und ich atmete erleichtert auf. Wozu gab es künstlerische Freiheit? In meinen Augen waren die Flügel perfekt. Tintoretto hin oder her.
Um uns bei Laune zu halten, hatte sich die Schulleitung für die jährlichen Kulturtage etwas Besonderes einfallen lassen: ein langes, lateinamerikanisches Wochenende.
Mehrere Südamerikaspezialisten, darunter ein Geschichtsprofessor für präkolumbische Kultur, der Übersetzer eines bekannten brasilianischen Autors und eine argentinische Tanzlehrerin, waren eingeladen. Zudem gab es chilenisches Essen.
Überraschenderweise war der Vortrag des grauhaarigen Geschichtsprofessors spannender als die Lesung. Er stellte uns Chan Chan vor, eine gigantische Wüstenstadt in Peru. Der Tanzunterricht übertraf jedoch alles.
Meine Klassenstufe sollte Tangotanzen lernen! Die meisten der Mädchen brezelten sich auf wie für einen Tanzabend. Ich hatte meine Jeans anbehalten. Juliane, deren pastellfarbenes Kleid ausgesprochen gut zu ihren hellen Haaren passte, warf mir einen kritischen Blick zu.
»Du hättest ruhig auch einen Rock anziehen können. Immerhin hast du ja welche in deinem Schrank hängen.«
»Die sind ausschließlich für Schönwetterperioden reserviert. Bei diesen Arktistemperaturen ist es mir im Rock viel zu kalt – und Strumpfhosen hasse ich!«
Marisa stieß zu uns. »Ich auch«, bekräftigte sie und stolzierte in ihren Stilettos und ihrer ausgeblichenen Stretchjeans neben uns zum Festsaal.
Der Raum war mit schwarzen Fächern, roten Tüchern und künstlichen Blumen auf den Tischen geschmückt und wirkte tatsächlich ein wenig lateinamerikanisch – wenn man die florale Wandbemalung, die Brokatvorhänge und den Kronleuchter ignorierte. Vielleicht hätte ich wenigstens andere Schuhe anziehen sollen.
Natürlich fiel der Blick der strengen Tanzlehrerin, die ihre schwarzen, von silbergrauen Strähnen durchzogenen Haare zu einem schlichten Knoten geschlungen hatte, auf meine Füße.
»Beim nächsten Mal bitte ich alle Teilnehmer, passendes Schuhwerk zu tragen. Turnschuhe lasse ich dann nicht mehr durchgehen!«
»Beim nächsten Mal?«, flüsterte ich Marisa ins Ohr.
»Ja. Hast du denn bei der Schulversammlung nicht zugehört? Der Kurs wird jeden Donnerstag fortgesetzt und endet mit einem Abschlussball vor den Pfingstferien.«
»Was?« Mein entgeisterter Aufschrei lenkte erneut die Aufmerksamkeit der Tanzlehrerin auf mich. Ich verstummte augenblicklich, lächelte und ließ mir meinen Schock nicht anmerken. Paartanz war nicht mein Ding.
Im Anschluss an die erläuternde Einführung teilte die Argentinierin jedem von uns einen Partner zu. Ich bekam Harald, einen plumpen Tollpatsch, der besser aussah, als er tanzen konnte, und war froh, Sneakers zu tragen. In meinen offenen Sandalen – den einzigen Schuhen mit hohen Absätzen, die ich dabeihatte – wären meine Zehen bei weitem nicht so gut geschützt gewesen.
Nach einer kurzen Pause durften wir Mädchen unseren Partner selbst wählen. Ich wollte Max auffordern, der schon einen Tanzkurs hinter sich hatte und mir mit Sicherheit seltener auf die Füße trampeln würde als Harald. Er stand neben Raffael. Ich vermied, Max ein Zeichen zu geben – nicht dass Raffael etwas missverstand –, und kämpfte mich durch den Raum.
Ausgestreckte Beine, am T-Shirt und meinen Haaren zerrende Hände behinderten mich. Hannah hatte ihr Gefolge gut im Griff. Noch bevor sich ein Mädchen Raffael nähern konnte, wurde es aufgehalten. Bei mir waren sie besonders gründlich. Ein Büschel Haare und
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