Schloss der Engel: Roman (German Edition)
dem Pulli nicht geplant war, sah ich so aus, als hätte ich vor, jemanden aufzureißen.
Natürlich ging ich sofort zur Waschküche im Schlosskeller, um nach meinen Sachen zu sehen und mich umzuziehen. Bis auf meinen neuen Rucksack, der aussah wie verschrumpelte Hühnerhaut, war alles trocken. Mit der ersten Ladung auf dem Arm lief ich durchs Foyer, vorbei an der Wandtür, hinter der die Besenkammer lag – und die nicht vorhandene Treppe. Beim dritten Mal hielt ich es nicht länger aus und warf einen Blick hinein. Natürlich gab es immer noch keinen Zugang nach unten, aber ich konnte mich wieder daran erinnern, dass ich meine Abschiedsgeschenke vor Hannah in Sicherheit bringen wollte. In meinem Reiserucksack waren sie nicht mehr – und irgendwo musste ich sie ja versteckt haben. Nur wo, fiel mir einfach nicht ein.
Meine erste Schulwoche auf dem Internat wurde ziemlich stressig. Abgesehen davon, dass ich mich bemühte, Hannah aus dem Weg zu gehen – weshalb ich mein Zimmer nur zum Schlafen benutzte –, holten mich meine Wissenslücken ein. Frau Germannverordnete mir nach unangekündigten Kontrolltests Extrastunden in Französisch, Biologie und deutscher Rechtschreibung. Auch am Wochenende.
Anstatt mit Marisa, Max und Florian meine ersten Schritte auf dem zugefrorenen See zu wagen, saß ich jeden Nachmittag im Studierzimmer und lernte. Mit Raffael. Auch er hatte einiges nachzuholen. Zudem war ich für ihn wohl so anziehend wie ein Magnet: Nicht nur, dass er mit mir die Zeit bis zum Abendessen verbrachte und sich danach in der Kantine zu mir setzte – was ich und vor allem Juliane völlig in Ordnung fanden. Immer wenn ich versuchte, unbemerkt im Besenschrank zu verschwinden, tauchte er auf.
Erst nach meinem Pflichtanruf – seit dem Unfall bestanden meine Eltern darauf, dass ich mich jeden Freitag meldete –, gelang es mir, Raffael abzuschütteln. Ich behauptete, wegen Kopfschmerzen früh ins Bett zu wollen. Davor hatte ich dafür gesorgt, dass er in angenehmer Gesellschaft war, indem ich ihn in den Aufenthaltsraum schleppte, wo ein paar Mädchen sich sofort auf ihn stürzten.
Ich wollte mir den Putzmittelraum noch einmal genauer anschauen. Meine Überlegungen hatten mich immer wieder in einen darunterliegenden, nicht existierenden Kellerraum mit allen möglichen Kuriositäten geführt. In bester Erinnerung waren mir ein mannshoher Spiegel und eine Harfe geblieben. Ich war über sie gestolpert und hatte mir – wie so oft in letzter Zeit – den Kopf angestoßen. Eventuell hatte sich schon damals mein Gedächtnis getrübt, obwohl die Bilder vom Zusammenstoß mit dem Instrument zu lebhaft waren, um sie nur geträumt zu haben.
Mit größter Sorgfalt strich ich über den Boden des Putzraums. Nichts, keine Vertiefung, keine Erhebung, keine Unregelmäßigkeiten. Wenn hier jemals eine Treppe nach unten geführt haben sollte, hatte jemand wirklich gute Arbeit geleistet!Schon in der Woche darauf stand die erste Prüfungswelle an. Sonderbarerweise häuften sich Klassenarbeiten immer, egal auf welche Schule man ging.
Marisa hatte mir angeboten, mit ihr und Juliane zu lernen. Ich willigte dankbar ein. Eine Unterstützung in Französisch hatte ich bitter nötig, und ich war gerne bereit, mit meinen Mathekenntnissen zu helfen. Zudem konnte ich so Raffaels Bitte, gemeinsam mit ihm zu üben, ablehnen, ohne lügen zu müssen. Auf keinen Fall wollte ich Juliane noch mehr Grund zur Eifersucht geben: Ich hatte schon den vorigen Abend komplett mit ihm verbracht. Er hatte eines meiner Lieblingsthemen angeschnitten – italienische Kunst –, weshalb ich länger mit ihm zusammenblieb, als ich beabsichtigt hatte.
»O Mann! Langsam wird mir die Büffelei zu viel«, seufzte Marisa.
»Allerdings. Ich nehm mir morgen Nachmittag frei. Sonst werd ich niemals fertig und sitz hier noch die ganze Nacht«, erwiderte Juliane, die sich mit Max und Florian im Gemeinschaftsraum verabredet hatte – wo auch Raffael sein würde.
Obwohl er sich deutlich weniger mit den anderen unterhielt als mit mir, verstand Raffael es, seinen Charme in der nötigen Dosierung einzusetzen, um das Interesse erstaunlich vieler Mädchen aufrechtzuerhalten. Auch wenn er für mich davon immer eine besonders große Portion reserviert hatte!
»Du willst schwänzen? Und wenn dich jemand erwischt?«, nahm ich Julianes Ankündigung auf. Mich interessierte, welche Konsequenzen Blaumachen hatte.
Juliane lachte über meine Naivität. »Wenn du mir sagst, wie man
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