Schloss der Engel: Roman (German Edition)
hoffentlich eine plausible Geschichte eingefallen.
Ich lief an Juliane vorbei, doch Marisa packte mich am Arm und hielt mich zurück. In ihrem festen Griff und ihrer Stimme lag eine seltsam vertraute Intensität.
»Habe ich dich nicht gewarnt, allein in den Wald zu gehen?«
Ich zuckte zusammen. Das hatte sie niemals getan – trotzdem kam mir die Warnung bekannt vor. Ich schüttelte den Gedanken ab. Er ging über alles Vorstellbare hinaus.
Während ich unter der Dusche stand und mich von dem stinkenden Schleim befreite, versuchte ich, das Ganze einzuordnen. Offenbar träumte ich nicht nur wirres Zeug, hörte fremde Stimmen und sah nebulöse Gestalten, sondern fantasierte auch noch. Wenn das so weiterging, war ich bald reif für die Klapsmühle. Am besten, ich vergaß alles Sonderbare, was ich geträumt und erlebt hatte. Das waren sicher nur Auswirkungen meines Schädeltraumas.
Obwohl mich keine weiteren Albträume heimsuchten undich nur bruchstückhaft von Philippe, grünen Augen oder anderen, mehr oder weniger harmlosen Sachen träumte und auch keine Geistererscheinungen mehr hatte, wurden die nächsten Tage höllisch. Hannah hatte die richtige Taktik gewählt. Anstatt offen vorzugehen, stachelte sie meine Freunde gegen mich auf – allen voran Juliane.
Im Aufenthaltsraum machte sie sich an Raffael ran: »Wirklich edel von dir, Lynn aus dem Sumpfloch zu retten und ihren Körper vom Schlamm zu befreien. Sicher hast du die kleine Abwechslung genossen. Aber wenn du auf was richtig Heißes stehst, brauchst du’s nur zu sagen.«
Da Raffael den Vorfall nicht abstritt, war klar, dass was gelaufen sein musste. Meine Beteuerungen, dass er mir nur geholfen und den Schlamm abgerieben hatte, konnten da auch nichts mehr einrenken. Im Gegenteil. Meine missglückte Formulierung machte das Ganze nur noch schlimmer.
Marisa war sauer, weil ich ihr nichts erzählt hatte. Florian, weil ich mich dem Aufreißer – wie er Raffael heimlich nannte – an den Hals geworfen hatte. Und Juliane sprach kein Wort mehr mit mir. Der Einzige, der keine Probleme damit hatte – außer Raffael natürlich –, war Max.
So war ich beinahe froh, als sich am letzten Schultag vor den Osterferien alle Schüler in der Aula versammelten. Unter Beifall verteilten Frau Germann und Herr Sander Schokoladenosterhasen. Während sie uns verabschiedeten, schöne Feiertage und eine sichere Heimreise wünschten, überlegte ich, wie ich meinen Vater am besten überreden konnte, mich vom Internat zu nehmen. Meine alte Schule war deutlich einfacher, sowohl, was die Leute, als auch, was die Klausuren betraf. Aber vor allem war es zu Hause viel erholsamer: Ich träumte seltener und weit weniger intensiv.
Kapitel 21
Madonna che scappa in piazza
E s gelang mir nicht, das Bild zu vertreiben. Sobald meine Gedanken abschweiften, fanden mich diese smaragdgrünen Augen, die mich mit einer Sehnsucht betrachteten, für die wohl die meisten weiblichen Wesen alles aufgegeben hätten. Erst nachdem ich Philippe am Ausgang des Flughafenterminals entdeckte, verblasste die Illusion.
Philippes Umarmung und sein gehauchter Begrüßungskuss waren echt – greifbar. So ließ ich meine Arme etwas länger auf seiner Schulter liegen. Seine körperliche Nähe besänftigte meine aufgewühlten Gefühle, und ich nahm mir eigennützig, was ich brauchte, um nach der langen Anreise mit viel zu viel Zeit zum Nachdenken zu mir zurückzufinden.
Schließlich war es Philippe, der sich meiner Umarmung entzog. Er betrachtete mich mit einem eigenartigen Blick, bevor er sich geradezu übereifrig meinem Gepäck zuwandte und meine Reisetasche zu seinem Wagen bugsierte.
Die Fahrt von Rom nach Sulmona dauerte beinahe drei Stunden, und ich fühlte mich ziemlich erschöpft, als wir endlich das Haus meiner Eltern erreichten. Philippes Enttäuschung, dass ich nicht zu Stefano mitkommen wollte, stand ihm ins Gesicht geschrieben. Da ich ihm jedoch hoch und heilig versprach, mir dieses Jahr die Karfreitagsprozession anzusehen, hellte sich seine Miene wieder auf.
Philippe durfte als Ersatz für seinen kranken Onkel als Sänger im Chor am Festzug teilnehmen – und er war sehr stolz darauf. Die Osterfeierlichkeiten in Sulmona waren in ganz Italien bekannt.Die nächtliche Prozession am Karfreitag und am Ostersonntag die Madonna che scappa in piazza lockten Tausende Besucher in die Stadt.
Wie üblich quetschten wir uns zu fünft in Philippes kleinen Fiat. Da er rechtzeitig vor Beginn der Prozession in
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