Schloss der Engel: Roman (German Edition)
Sulmona sein musste, ergatterten wir hervorragende Plätze in der vorderen Reihe. Nach und nach füllten sich die festlich beleuchteten Straßen, bis wir dicht nebeneinanderstanden: ich neben Emilia, hinter uns Stefano und Antonio.
Das Spektakel begann. Von weitem hörten wir die Trommeln der herannahenden Musikanten. Ernst dreinblickende Männer, gekleidet in die traditionellen roten und grünen Gewänder, näherten sich. In ihren Händen hielten sie lange Stangen, an deren oberen Enden Laternen flackerten. Hinter ihnen folgte der Spielmannszug, danach die Sänger.
Emilia stupste mich in die Seite. »Da, da ist Philippe.« Sie hielt sich die Hand vor den Mund, um ihr Kichern zu verbergen. »Sieht er nicht putzig aus in seinem knielangen Kleidchen und dem weißen Latz?«
Ich biss mir auf die Lippen, um nicht ebenfalls laut loszukichern. Philippe nahm seine Sache sehr ernst und es wäre unfair, ihn aufgrund des weißen Tuches auszulachen, das in fein säuberlich gelegte Falten sein Gewand schmückte – auch wenn es wirklich eine gewisse Ähnlichkeit mit einem Latz besaß.
Zielsicher, als hätte er gewusst, wo wir standen, wanderte Philippes Blick zu uns herüber. Stolz und Ehrfurcht spiegelten sich in seiner Haltung. Ich schenkte ihm ein Lächeln und warf einen Kussmund in seine Richtung.
»Wenn ich nicht wüsste, dass es unser Philippe ist, könnte er mir direkt gefallen«, kommentierte Emilia Philippes Erscheinung, woraufhin Stefano ihr besitzergreifend seine Arme um die Taille schlang.
»Zu spät. Du bist schon an mich gebunden«, scherzte er – Emilia war seit kurzem mit ihm zusammen.
Als sie mir am Tag nach meiner Ankunft die Neuigkeit anvertraute, war ich nicht allzu begeistert. Schließlich brachte dies die langjährige Freundschaft zwischen uns allen durcheinander, und ich befürchtete, dass Emilia und Stefano sich ausklinken würden. Doch die vergangenen Tage hatten gezeigt, dass sich nichts verändert hatte. Im Grunde standen sich die beiden schon immer sehr nahe.
Meine Aufmerksamkeit kehrte zu den Feierlichkeiten zurück. Dem Chor folgte der eigentliche Höhepunkt der Prozession. Auf einen mit vier kunstvoll gestalteten Engeln geschmückten Katafalk gebettet, führten die Würdenträger die Figur des verstorbenen Christus an uns vorbei. Ihr folgte die Marienstatue, aus deren Leib der Schaft eines Dolchs ragte – das Symbol ihres Leidens.
Ein leises Kribbeln zog über meine Haut. Angeregt durch den getragenen Gesang des Chors, drängten die Menschen näher. Jeder wollte einen Blick auf die Madonna werfen. Ich spürte Antonio in meinem Rücken, der nach vorne geschoben wurde, und war froh, in der ersten Reihe und nicht mittendrin zu stehen.
Nach einer Stunde endete der Festzug. Die meisten Besucher schlossen sich der Prozession an und folgten ihr durch die nächtliche Stadt. Wir schlugen den entgegengesetzten Weg ein – Philippe im Gedränge der Masse wiederzufinden, wäre aussichtslos. Darum hatten wir einen Treffpunkt vereinbart, der abseits lag.
Während wir auf Philippe warteten, überredete Emilia Stefano, auch das Spektakel der Madonna che scappa anzuschauen. Ich stöhnte innerlich auf – eigentlich hatte ich nach dem heutigen Abend genug von Menschenansammlungen.
Meine Eltern waren am Sonntag bei Freunden eingeladen,deren Palazzo direkt an die große Piazza grenzte. Da ich den Tag lieber mit meinen Freunden verbringen wollte, anstatt dem Spektakel zuzusehen, hatte ich abgelehnt, sie zu begleiten. Wie es aussah, blieb mir nichts anderes übrig, als mit nach Sulmona zu fahren und die rennende Madonna anzuschauen, wenn ich nicht allein zu Hause bleiben wollte.
Nach italienischer Tradition hatte ich Riesenostereier für meine Freunde besorgt – nach meiner eigenen Tradition weitere Leckereien und für jeden ein passendes Geschenk, die ich bei mir zu Hause verstecken wollte. Obwohl wir inzwischen eigentlich zu alt für derartigen Unfug waren, bestand ich auch in diesem Jahr auf meiner Ostersuche und meine Freunde taten mir den Gefallen und spielten mit.
Es fühlte sich gut an, in mein altes Leben abzutauchen. Nach den Albträumen waren auch die grünen Augen verschwunden und meine Angst, bald ein Fall für die Psychiatrie zu werden, legte sich. Vielleicht half auch, dass ich ausschlafen konnte und mich kein Internatsstress erwartete.
Am späten Nachmittag hatte ich alle Vorkehrungen getroffen und das letzte Geschenk an seinem vorgesehenen Platz verstaut, als das Telefon
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