Schloss der Engel: Roman (German Edition)
ich sein Bild aus meinem Kopf. Träume waren nicht real – und auch nicht die Erscheinung am See. Es hatte weder einen Pavillon noch eine Kapelle gegeben und schon gar niemanden, der mein Herz schneller schlagen ließ.
Noch bevor ich die Schule erreichte, begann es zu regnen. Besser gesagt, zu schütten. Ich fluchte leise vor mich hin. MeineSchuhe waren durchweicht, und ich fror schon jetzt bis auf die Knochen.
Raffael saß vor dem Schloss im strömenden Regen auf der Mauer am See, als warte er auf jemanden.
»Wo warst du denn?«, begrüßte er mich.
»Spazieren. Warum?«
»Bei dem Wetter?«
»Da wird man auch nicht nasser als auf der Mauer. Außerdem hat es noch nicht geregnet, als ich losgegangen bin«, erwiderte ich.
»Du bist wohl gern allein unterwegs.«
»Manchmal.« Ich zuckte mit den Schultern. »Dann lenkt mich niemand ab, und ich kann meinen Gedanken nachhängen.«
»Gedanken? An was?«
»An alles Mögliche: an Italien, meine Freunde ...«
»An jemand Bestimmten?«, unterbrach er mich.
»Nein.«
Sein Gesicht hellte sich auf. Ich biss mir auf die Zunge. Vermutlich wäre es besser gewesen, ich hätte gelogen. Inzwischen dämmerte mir, dass er vielleicht auf mich gewartet hatte.
»Ich geh dann mal. Wenn ich noch länger im Regen bleib, wird mir nie wieder warm werden. Wir sehen uns später – bei der Nachhilfe.« Ich ließ ihn stehen und eilte die paar Meter zum Gelben Haus hinüber, um schnellstens eine heiße Dusche zu nehmen.
Frau Germann, die Rektorin, teilte uns die Arbeitsblätter diesmal selbst aus: Kontrolltests in Deutsch. Obwohl ich in meinen Gedanken immer wieder den blonden Schönling vor Augen hatte, schaffte ich es, frühzeitig fertig zu werden – im Gegensatz zu Raffael. Er schrieb noch. Während ich wartete, blieben meine Augen an seinem breiten Rücken hängen. Er hatte ziemlich große Ähnlichkeit mit meiner Traumerscheinung, abgesehen von der Haarfarbe. Seine waren schwarz, wie Philippes.
Ich geriet ins Grübeln. Hatte ich Raffael abgewimmelt, weil er mich an Philippe erinnerte? An dessen Sprunghaftigkeit? Philippe hätte nicht gezögert und wäre schon lange auf Hannahs Angebot eingegangen. Raffael hatte sie auf Abstand gehalten und auch mit keinem der anderen Mädchen etwas angefangen, obwohl sie eindeutige Zeichen aussandten.
»Schon fertig, Linde?« Frau Germann warf mir einen skeptischen Blick über den Rand ihrer Lesebrille zu. Ich nickte und gab ihr die Zettel, in der Hoffnung, früher gehen zu dürfen. Weit gefehlt! Frau Germann korrigierte sie sofort. Erst als sich ein halbwegs zufriedener Ausdruck auf ihr Gesicht legte, atmete ich auf.
»Offenbar erinnerst du dich wieder, wie man fehlerfrei schreibt. Auch deine Hausarbeiten sind besser geworden, wie mir Herr Müller bestätigt hat. Deine Wochenendstunden sind ab sofort gestrichen.«
Ich grinste über beide Backen, als ich Marisa die Neuigkeit erzählte. Raffael hatte weniger Glück. Er bekam noch eine Extrastunde Sprachtraining obendrauf, um seinen italienischen Akzent abzutrainieren – völliger Blödsinn in meinen Augen.
Trotz des Regenwetters bestand mein Geo- und Deutschlehrer, Herr Müller, auf seiner Exkursion. In seinen Augen gab es nur falsche Kleidung und kein schlechtes Wetter, weshalb er auch bei strömendem Regen joggte. Glücklicherweise verzog sich die Sturmfront, bevor wir mit Klappschaufeln bewaffnet loszogen.
Natürlich war der Weg schlammig und aufgeweicht. Bei jedem Schritt quoll nasse Erde unter meinen Sohlen hervor. Am liebsten wäre ich umgekehrt. Zweimal nasse Füße in einer Woche mussten nicht sein.
Herr Müller überhörte unseren Protest und drängte weiter. Nach kurzer Zeit verließ er den Weg und jagte uns einen überschwemmtenPfad entlang, der nicht viel weniger Wasser führte als der Bach daneben.
Nicht nur ich atmete erleichtert auf, als er abbog und in einem Waldstück stehenblieb. Mit einer Hingabe, die ihresgleichen suchte, buddelte Herr Müller ein Loch und erklärte, wie wir die Sedimentschichten bestimmen konnten. Dann kramte er eine Landkarte hervor und zeigte uns, wo wir unsere Untersuchungen durchzuführen hatten.
»In der nächsten Stunde besprechen wir dann die Ergebnisse. Und falls ihr auf einen archäologischen Fund stoßen solltet: Lasst die Finger davon, lauft zur Schule und holt mich!«, scherzte er, bevor er jeden in eine andere Richtung davonschickte.
Ich orientierte mich nach Nordwesten. Die Bäume standen hier dichter beieinander, und da in dem
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