Schloss der Engel: Roman (German Edition)
Jagdinstinkt. Mit Hingabe versuchten sie, meine verschlüsselten Botschaften zu enträtseln. Jeder Hinweis brachte sie Schritt für Schritt näher an ihr Ziel. Letztendlich errang Stefano den Ehrentitel des besten Ostersuchers, und wir beschlossen, frühzeitig nach Sulmona aufzubrechen.
Der Andrang auf der Piazza war enorm. Trotz seiner Größe füllte sich der Platz rasch. Unablässig strömten Menschen aus den umliegenden Straßen und drängten die anderen dichter zusammen.
Obwohl ich Emilias dünnes Kleid trug, geriet ich ins Schwitzen. Es hatte seine Gründe, warum ich lieber zu Hause geblieben wäre – ich hasste Menschenansammlungen. Das Geschiebe und Gedränge an Bushaltestellen oder im Zug reichte aus, um ein flaues Gefühl in meiner Magengrube hervorzurufen.
Ich blendete die Frage, wie viel Tausend Menschen wohl um mich herumstanden, aus und konzentrierte mich auf meine Freunde neben mir und das beginnende Schauspiel.
Eine breite Schneise teilte die Massen und schuf eine Gasse für die Akteure. Langsam wurden die wertvollen Statuen der Heiligen neben der gepeinigten Madonna aus der Kirche getragen. Den gemäßigten Schritten der Träger folgend, stimmten die Zuschauer mit ein – wie eine rhythmische Woge, die über den Platz brandete. Auch ich wurde von der Begeisterung mitgerissen und fügte mich dem vorgegebenen Takt.
Die Heiligen entdeckten den wiederauferstandenen Jesus und versuchten, die Madonna aus ihrer Trauer zu erwecken. Sie wehrte ab, bis sie ihren Sohn schließlich selbst erblickte.
Die ersten Schritte der Ordensbrüder, die die Marienstatue über den Platz trugen, an dessen Ende ein Abbild Jesu wartete, spiegelte die Ungläubigkeit Marias wider: Zögernd schritt sie voran. Die Masse folgte ihrem langsamen Rhythmus, beschleunigte ihn und trieb die Madonna vorwärts.
Ich fühlte die Aufregung der Gläubigen um mich, die Marias Erkenntnis entgegenfieberten. Die Anspannung wuchs, da die Träger sich dieses Jahr besonders viel Zeit ließen. Immer dichter schob sich die Welle der wogenden Menschenmenge der Marienstatue entgegen, spornte sie an, endlich den sichtbaren Beweisen Glauben zu schenken.
Eine ungeduldige Gruppe zwängte sich an uns vorbei und trennte mich von meinen Freunden. Ich wollte zurück, doch der kurz bevorstehende Lauf der Madonna heizte die Euphorie der Besucher an. Immer weiter trennte mich die nach vorn strömende Masse von ihnen, quetschte mich zwischen den Leibern fremder Menschen ein und zog mich mit sich.
Ich rief nach Emilia und Philippe, aber mein Hilferuf ging im allgemeinen Trubel unter. Mein Magen zog sich zusammen, als ich erkannte, dass ich wohl nicht mehr so schnell zu ihnen zurückfinden würde. Panik breitete sich in mir aus, trieb meinen Puls in die Höhe und zwang mich zu einem hyperventilierenden Keuchen. Schon flimmerte schwarzer Nebel in meinem Blickfeld. Entsetzt wehrte ich mich gegen seinen Zugriff. Ich musste die Kontrolle über meinen Körper behalten, um nicht von der Masse erdrückt zu werden, wenn sie beim Fall des schwarzen Trauermantels der Marienstatue mit ihr liefen.
Obwohl ich dagegen kämpfte, schoben sich furchteinflößende Bilder vor meine Augen. Hunderte Menschen drängten auf mich zu, drückten mich zu Boden und überrannten mich.Ich fühlte kantige Ellbogen und knochige Arme, die meine Rippen zu durchbohren schienen; spürte derbe Sohlen und spitze Absätze, die auf meinem Körper herumtrampelten. Ich schrie – der Schmerz war real.
Im selben Moment, in dem die Marienstatue ihren Mantel verlor und ihre Träger mit ihr nach vorne stürmten, wurde ich zu Boden gestoßen. Mein verzweifelter Versuch, wieder auf die Beine zu kommen, scheiterte kläglich. Der Höhepunkt der settimana santa zog alle in ihren Bann.
Ein derber Tritt in die Rippen raubte mir den Atem. Der schwarze Nebel weitete sich aus und verdichtete sich zu einem dunklen Abgrund, aus dessen Tiefe unzählige, weiß gebleichte Totenhände emporragten, um mich hinabzuziehen. Kurz bevor sie mich zu fassen bekamen, umhüllte mich der Duft eines Sommergewitters und mit ihm kehrte meine Erinnerung zurück. Schlagartig und vollständig!
Christopher!
All meine Gedanken waren auf ihn gerichtet. Mit jeder Faser spürte ich seine berauschende Nähe. Er war kein Traum, er existierte! Und er war hier. Bei mir.
Ich ließ meinen Blick entlang der zurückweichenden Menschen schweifen, die mit gebührendem Abstand einen Kreis um mich gebildet hatten und entsetzt auf mich
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