Schloss der Engel: Roman (German Edition)
die geprägte Münze. Meine Vermutung, dass Coelestin der Absender war, verdichtete sich. Er wollte eine Gegenleistung von mir. Was würde ein Schutzengel wohl fordern? Ich rief mir Coelestins vernarbtes Gesicht vor Augen. War er überhaupt ein Schutzengel?
Meine Englischlehrerin, Frau Kupferberg, blieb vor mir stehen und wiederholte ihre Frage. Ich stammelte eine Antwort, die zum Thema, aber nicht zur Frage passte, und stand den Rest der Stunde unter besonderer Beobachtung .
Am Nachmittag holte ich erneut den Brief hervor. Ein Rätsel hatte ich bereits gelöst: Wenn die Nacht am dunkelsten ist. Am vorletzten Tag vor den Pfingstferien, in der Nacht von Mittwoch auf Donnerstag, war Neumond. Die dunkelste Stunde des Tages war Mitternacht – zumindest im übertragenen Sinn. Alsohatte ich noch zwei Tage und eine halbe Nacht, um das Rätsel zu lösen.
Sei pünktlich! Anscheinend legte der Absender Wert darauf, die Geisterstunde einzuhalten, was wiederum meine Skepsis weckte. Wollte mich jemand auf den Arm nehmen? Hannah vielleicht? Doch woher sollte sie wissen, wonach ich suchte?
Ich unterzog die Zeilen nochmals einer genauen Prüfung und spürte, wie sich eine undefinierbare Angst in mir ausbreitete. Meine Entscheidung würde endgültig sein: Es gibt kein Zurück .
Energisch klopfte es an meiner Tür, und ich fand gerade noch Zeit, den Brief in der Schreibtischschublade verschwinden zu lassen, ehe Marisa mein Zimmer betrat.
»Ist es wahr, was Juliane mir erzählt hat?«
»Was genau meinst du?« Marisas ungläubige Miene bereitete mich auf ein schwieriges Gespräch vor. »Du weißt, wovon ich spreche. Das Päckchen!«
»Ja, ich hab eins bekommen. Was ist damit?« Meine vorgeschützte Gelassenheit entfachte ihren Argwohn.
»Es ist ein Geschenk von ihm, nicht wahr?«
Ich zuckte mit den Schultern, doch Marisa entdeckte den Beutel auf meinem Schreibtisch. Noch bevor ich reagieren konnte, hatte sie ihn an sich gerissen und geöffnet.
»Sag, dass das nicht wahr ist! Dein Freund ist ein Priester ? Bist du von allen guten Geistern verlassen?« Ich wollte sie unterbrechen, kam jedoch nicht zu Wort. »Wie stellst du dir das vor? Hat er sein Gelübde schon abgelegt? O Lynn, es gibt so viele nette Jungs! Muss es ausgerechnet ein Geistlicher sein?«
Mein schallendes Gelächter brachte sie endlich zum Schweigen. Ich konnte nicht anders, ihr entsetzter Blick war einfach zu komisch.
Marisa ärgerte sich über meine Reaktion, erkannte das Missverständnis und fiel mit ein: »Juliane! Die wird was von mir zu hören bekommen! Dann ist er also kein Priester?!«
»Nein! Und auch kein Mönch. Ich hab die Kette von einem Freund aus Italien bekommen. Dort, wo ich wohne, gibt es viele Gläubige, und wahrscheinlich fürchtet er, dass ich hier zu vielen heidnischen Gefahren ausgesetzt bin.« Schon wieder fühlte ich mich gezwungen, Marisa zu belügen. Doch hatte ich eine andere Wahl?
Sie glaubte mir und sorgte dafür, dass ich nicht den Rest des Tages grübelnd an meinem Schreibtisch verbrachte. Stattdessen führte sie mich auf den Tennisplatz. Gemeinsam mit Max und Florian spielten wir ein gemischtes Doppel.
Trotz besserem Wissen hoffte ich auf eine Eingebung im Traum. Natürlich erhielt ich keine aufschlussreiche Botschaft.
Ich verdrängte meine Enttäuschung und schöpfte Hoffnung aus dem Brief. Wenn es mir gelang, das Rätsel zu lösen, stand mir nichts mehr im Weg, um Christopher zu überzeugen, dass ich seiner Liebe würdig war.
War es so? War ich wirklich mutig genug, den geforderten Preis zu bezahlen, egal wie hoch er auch sein mochte? War ich bereit zu sterben?
Meine Furcht kehrte ungeahnt heftig zurück. Ich wusste, dass ich nicht sofort ein Engel sein würde. So, wie es im Augenblick aussah, würde bei meinem Ableben die Totenwächterin Anspruch auf mich erheben.
Der Gedanke an die Wächterin löste Übelkeit in mir aus. War ich wirklich so weit, alles zu geben? War ich stark genug, für Christopher meine Seele zu opfern? Konnte ich der Totenwächterin widerstehen? In ihren Fängen an meiner Liebe festhalten, bis meine Seele gefestigt und ich aus ihrer Gefangenschaft erlöst werden würde? Oder blieben am Ende nichts als Leid und Trauer, wie Christopher es vorausgesagt hatte?
Die Furcht verwandelte sich in Angst – Todesangst. Ich schob sie beiseite. Der Verfasser des Briefes versprach, mir einen sicheren Weg zu zeigen, und das war es schließlich, was ich wollte.
Um mich wieder den rätselhaften Zeilen widmen zu
Weitere Kostenlose Bücher