Schloss der Engel: Roman (German Edition)
Etwas über verschollene Gräber?« Es hatte sich herumgesprochen, dass Raffael mich bei den Steingräbern gefunden hatte.
»Nein, das Totenreich habe ich hinter mir gelassen«, scherzte ich etwas gezwungen. »Aber vielleicht können Sie mir in einer anderen Sache weiterhelfen. Ich suche einen Wald.«
»Also doch etwas Düsteres .«
Ich biss mir auf die Zunge, um ihm nicht eine patzige Erwiderung entgegenzuschleudern – schließlich wollte ich ja seine Hilfe.
»Haben Sie schon mal von einem Rabenwald gehört?«
Herr Müller zog seine buschigen Augenbrauen zusammen, strich mehrmals über seine dunklen Stoppelhaare, wie über die Borsten eines Besens, und setzte sich auf den Rand seines Pults.
»Warum willst du das wissen?«
Ich spekulierte darauf, mit meiner Antwort sein Interesse zu wecken.
»Für meine Facharbeit. Ich bin noch auf der Suche nach einem passenden Thema.«
»Und da haben es dir geheimnisvolle Orte und mysteriöse Geschichten wohl angetan?! Wenn man bedenkt, dass es hier in der Gegend einen Hexenkult gab und einen Hexenkeller, in dem viele zu Unrecht gefoltert wurden, scheint mir dein Thema gar nicht so uninteressant.«
Hexenkult? Folter? Ich wusste nicht, wie das zu meinem Rabenwald passen sollte, trotzdem nickte ich zur Bestätigung.
»Es gab hier tatsächlich mal einen Wald, der Rabenwald genannt wurde. Ursprünglich sollen dort Raben genistet haben«, bestätigte Herr Müller.
Volltreffer! Die Rabenfeder war der Hinweis, den ich gebraucht hatte. Es musste jemanden geben, der sicher sein wollte, dass ich das Rätsel löste.
»Nachdem man den Wald abgeholzt hatte, verschwanden sie aus der Gegend. Die Dorfbewohner sahen das als böses Omen«, fuhr mein Geolehrer fort, während er nachdenklich über seine Borstenhaare strich. »Jedenfalls wurde die Schuld am Verschwinden der Raben den Holzarbeitern in die Schuhe geschoben. Man bezichtigte sie der Hexerei, da auf dem ehemaligen Waldboden niemals ein fruchtbares Feld bestellt werden konnte. Regelmäßig verfaulte das Korn, und irgendwann gaben die Bauern es auf, dieses Stück Land zu bestellen. Doch wenn du mich fragst, hat man wohl nur die Bäume um den ausgetrockneten See gefällt und versucht, auf dem ehemaligen Seegrund Landwirtschaft zu betreiben.«
»Und wo soll das sein?«, unterbrach ich ihn ungeduldig.
»Drüben, am anderen Ende des Sees. Ganz in der Nähe des Friedhofs «, betonte er mit einem Augenzwinkern. »Dort stehtein uralter Baum, auf dem sich im Winter heute noch Vögel sammeln. Krähen allerdings – keine Raben«, betonte er.
Ich fluchte leise vor mich hin, als ich den Friedhof auf der Übersichtskarte entdeckte. Er lag tatsächlich am anderen Ende des Sees. Um dort hinzukommen, musste ich entweder um den ganzen See laufen – also bei Nacht durch den Wald – oder über den See zum anderen Ufer rudern.
Ich entschied mich für die zweite Variante. Es standen genug Kanus bereit. Ich musste nur ein Paddel organisieren, wozu ich Marisas Hilfe brauchte. Als Kapitän des schuleigenen Drachenbootteams besaß sie einen Schlüssel zum Bootshaus, und ich wusste auch, wo er war: an ihrem Schlüsselbund.
Ich kam mir ziemlich mies vor, als ich mir ihre Schlüssel ausborgte, um ihr Französischheft aus ihrem Spind zu holen, weil ich angeblich die Hausaufgaben abschreiben wollte. Doch ich verdrängte das ungute Gefühl. Sie war meine Freundin und hätte mir bestimmt geholfen. Aber ich wollte niemanden mit hineinziehen. Vielleicht war nicht nur Aron der Meinung, dass ein Mensch und ein Engel nicht zusammengehörten.
Obwohl ich vorsichtshalber eine Pinkelpause während des Unterrichts nutzte, um das Paddel zu holen und im Schilf zu verstecken, musste Raffael etwas mitbekommen haben. Während des Abendessens warf er mir andauernd verstohlene Blicke zu, und auch im Gemeinschaftsraum fühlte ich mich unter ständiger Beobachtung. Ahnte er etwas von meinem nächtlichen Vorhaben? Hatte er das Kreuz entdeckt, das ich statt Philippes Madonnenanhänger seit heute Morgen bei mir trug? Wusste er, wer es geschickt hatte?
Auf jeden Fall erschien mir sein Verhalten merkwürdig, weshalb ich bei meinen Freunden blieb, bis wir ins Bett geschickt wurden. Ich nahm den Umweg über den Jungsflur, um sicher zu sein, dass er mir nicht ungebeten folgte. Die diensthabendenMentoren würden ihn jetzt nicht mehr zu mir ins Schloss lassen – zumindest so lange, bis alle Internatsbewohner auf ihren Zimmern waren. Dann zogen auch sie sich zurück, und ich
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