Schloss der Engel: Roman (German Edition)
den Beutel ihren gierigen Fingern und schob meinen Zeigefinger langsam in die kleine Öffnung, um sie zu vergrößern. Dabei berührte ich den kühlen Inhalt und zuckte erschrocken zurück: Er war nicht von dieser Welt. Deutlich fühlte ich einen heißen Stich durch meine Adern fließen. Eine Warnung – oder eine Aufforderung!
Juliane drängelte weiter: »Was ist los? Komm schon, spann mich nicht länger auf die Folter!« Sie griff nach dem Säckchen, doch ich war schneller.
Hatte Christopher mir eine Nachricht geschickt? Mit Raffaels Hilfe? Und Aron hatte versucht, es zu verhindern? Ich zögerte nicht länger. Ungeduldig riss ich den Beutel auf. Ein einfaches, altes, mit Gravuren überzogenes Silberkreuz an einer langen, ebenfalls aus Silber gefertigten Kette mit einer Münze als Verschluss kam zum Vorschein: Das Kreuz eines Geistlichen – eines spartanisch lebenden Mönchs. Pietro del Murrones Kreuz, das er trug, bevor er zum Papst gekrönt wurde.
Ich wusste es mit schlafwandlerischer Sicherheit. Nur Coelestin würde mir eine Kette schicken, auf der die Einsiedelei Murrones abgebildet war. Es war ein Hinweis, ein Zeichen, wie ich zurück zum Schloss der Engel kommen konnte. Weitere Erklärungen standen bestimmt in dem Brief.
»Was ist das denn? Wohnt dein Freund in einem Kloster, oder steht er auf so was?«
Julianes Enttäuschung war nicht zu überhören. Anscheinend hatte sie mit etwas anderem gerechnet – mit etwas Teurem, Funkelndem. Für mich jedoch konnte es nichts Wertvolleres gegeben als einen Schlüssel zu Christopher.
»Nicht alle haben den gleichen Geschmack«, erwiderte ich, ließ die Kette wieder in ihrem Beutel verschwinden, schnappte mir das Päckchen und eilte aus Julianes Zimmer.
Meine Bemühungen, einen Hinweis auf die Engelswelt zuentdecken, waren bislang erfolglos geblieben. Weder im Schloss noch bei der Kapelle hatte ich etwas gefunden, das mit Engeln zu tun hatte – abgesehen von einem Kronleuchter mit Engelsflügelchen im Vorraum zum Festsaal –, weshalb ich mir vorgenommen hatte, vor den Pfingstferien noch einmal bei den Steingräbern vorbeizuschauen. Vielleicht hatte Coelestin sich deshalb eingeschaltet, weil er das für keine besonders gute Idee hielt – und ich im Grunde auch nicht.
Ich konnte es kaum erwarten, den Brief zu lesen. Er war in derselben exakten Handschrift verfasst wie der Umschlag und richtete sich an mich:
Lynn, wie viel bist du bereit, von dir für ihn zu geben?
Ich zeige dir einen sicheren Weg, doch meine Hilfe hat ihren Preis.
Entscheidest du dich, ihn zu wählen, gibt es kein Zurück.
Löse das Rätsel, und wir sehen uns, wenn die Nacht am
dunkelsten ist.
Sei pünktlich!
Ein Freund
Ein Rätsel von einem unbekannten Freund, der mir helfen wollte, wenn ich ihm etwas als Gegenleistung dafür gab? Ratlosigkeit beschlich mich. Ich hatte den Brief mehrfach gelesen, ohne daraus schlau zu werden. Jetzt lag das ramponierte Stück Pergament, dessen Zustand auf ein hohes Alter schließen ließ, zusammen mit dem gravierten Silberkreuz in meinem Schrank, und ich saß mitten im Unterricht und grübelte über seine Bedeutung.
Wer konnte mir so etwas geschickt haben? Ein altes, mit Tinte beschriebenes Pergament, dessen löchrige, abgeschabte Oberfläche darauf hindeutete, dass es schon mehrfach beschrieben wurde? Coelestin? Gut möglich. Zumindest benutzte er Feder und Tinte. Aber es konnte auch jemand anderes gewesen sein.
Susan? Wohl kaum, auch wenn sie versucht hatte, mir im Traum eine Botschaft zu schicken. Sie hätte mit ihrem Namen oder zumindest mit Eine Freundin unterschrieben.
Die Totenwächterin, die mich erneut in eine Falle locken wollte? Ich verdrängte meine aufsteigende Furcht, da ich mir sicher war, dass Christopher sie nach meiner letzten Begegnung nicht mehr aus den Augen lassen würde. Es war unwahrscheinlich, dass es der Wächterin gelang, bis ins Schloss vorzudringen. Allerhöchstens Aron. Er hatte sich in letzter Zeit allzu still verhalten: Weder Meeresduft noch den Geruch von wilden Kräutern hatte ich wahrgenommen.
Ein Freund lautete die Unterschrift. Aron zählte ganz sicher nicht zu meinen Freunden, und seit wann benötigte er einen Termin, um sich mit mir zu treffen? Er konnte jederzeit in meinen Träumen erscheinen – und vielleicht nicht nur da. Ich verdrängte den gruseligen Gedanken so schnell wie möglich.
Paul? Nein. Er hätte einen Schönschreibkurs belegen müssen.
Altes Pergament, ordentliche Handschrift, das Kreuz und
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