Schloss der Engel: Roman (German Edition)
an Christopher, wie sein Gesicht vom flackernden Feuerschein erhellt wurde, aus und lief zügig weiter, bevor Aron oder sonst jemand mein Fehlen bemerken konnte.
An einer Kreuzung folgte ich dem schmalen Pfad Richtung See und stieß auf eine kleine, verlassene Kapelle. Der Ort kam mir seltsam bekannt vor. Das achteckige Gebäude mit seinem sternförmig zulaufenden Dach hatte ich allerdings noch nie zuvor gesehen. Neugierig umrundete ich die Kapelle – sie musste uralt sein. Efeuranken überzogen die mit rötlichen Feldsteinen ausgefachten Wände. Sechs Öffnungen, fünf bunt verzierte Fenster und eine Tür, durchbrachen das Mauerwerk. Ich zögerte nicht lange und öffnete die schwarze Eisentür, bevor ich ehrfürchtig den Innenraum betrat.
Das süße Aroma frisch geschnittener Blumen erreichte mich. Ein kleiner Altar, geschmückt mit einer Schale blühender Christrosen, stand vor den beiden fensterlosen Nischen. In einer thronte eine überlebensgroße Skulptur: ein aus weißem Stein geschlagener Engel – eine perfekte Mischung aus Michelangelos und Donatellos David. Bildschön und zugleich furchterregend, blickte er allwissend auf mich herab. Seine Züge waren so rein und makellos und dennoch so vertraut, so menschlich – unglaublich, wie der Künstler das fertigbringen konnte.
Ich fragte mich, ob es auch eine zweite Skulptur gegeben hatte, und kletterte in die leere Nische, um nach verbliebenen Spuren zu suchen. Der Engel sah mir zu, als würde er mich beobachten. Ich schüttelte den gruseligen Gedanken ab, doch der missbilligende Blick des Engels kam mir beunruhigend bekannt vor. Wären seine Augen grün, hätte ich gewusst, wer dem Bildhauer Modell gestanden hatte.
Als ich die Kapelle verließ, neigte sich der kurze Wintertag schon seinem Ende entgegen. Ich hatte völlig die Zeit vergessen und musste mich jetzt beeilen – eigentlich wollte ich bei Nacht den Wald verlassen haben. Wahrscheinlich würde ich mit dem Taxi zum Internat zurückfahren müssen. Mir schauderte, wenn ich an Arons Drohung dachte. Zimmerarrest war mir sicher!
Um abzukürzen, lief ich quer durch den Wald. Trotz des dichten Gestrüpps glaubte ich, schneller voranzukommen als unten am See. Die Dämmerung setzte ein, und es begann zu nieseln. Ich verfluchte mich, keine Mütze mitgenommen zu haben, und zog den Kragen meiner Daunenjacke nach oben. Weit konnte es nicht mehr sein. Hoffte ich zumindest.
Ich vernahm ein Flüstern. Mir schauderte. Die leisen Geräusche des Waldes hatten im Zwielicht eine bedrohliche Intensität angenommen. Vielleicht hörte ich sie auch nur besser, da meine Augen Unterstützung brauchten. Was würde ich wohl bei Nacht wahrnehmen? Besser, ich dachte gar nicht erst darüber nach.
Erneut kündigten sich Kopfschmerzen an. Ich ging schneller. Bei Nacht würde ich sowieso nicht mehr im Wald sein. Der Wind frischte auf. Klagelaute übertönten das Rascheln. Nur Äste, die sich berührten, beruhigte ich mich. Kein Grund zur Panik.
Als in der Ferne flackernde Lichter vor mir auftauchten, entfuhr mir ein geflüstertes »Danke!«. Das musste die Siedlung sein. Na endlich! Der harmlose Nieselregen hatte sich inzwischen zu einem wahren Sturm entwickelt. Dicke Regentropfenklatschten herab. Heftige Windböen peitschten mir schonungslos meine nassen Haare ins Gesicht. Ich fror erbärmlich.
Um die Kälte zu vertreiben, begann ich zu rennen, immer den Lichtern entgegen. Die zunehmende Dunkelheit erschwerte es mir, einen sicheren Weg zu finden, und ich verfing mich immer öfter in den dürren Zweigen des wild wuchernden Gestrüpps. Ein besonders störrischer Ast riss mir ein großes Loch in die Hose – und wenn schon. Nun wurde mein Oberschenkel eben direkt beregnet, meine Hose war eh schon völlig durchnässt und schützte mich kaum noch vor dem heftigen Niederschlag. Außerdem hatte ich im Moment andere Probleme.
Die Lichter schienen sich im Kreis zu bewegen – oder ich mich! Das eisige Band, das sich um meinen Kopf gelegt hatte, verstärkte anscheinend nicht nur meine Kopfschmerzen, sondern beeinträchtigte auch meine Wahrnehmung. Und dann gab es da noch Arons Drohung. Vermutlich war es gut, dass ich gerade nicht so klar denken konnte. Aber wenn ich nicht bald einen Platz zum Aufwärmen fand, würde ich eh erfrieren und der Zimmerarrest wäre hinfällig.
Ich stolperte vorwärts, ohne mein Ziel zu erreichen. Ein abgebrochener Baumstamm brachte mich zu Fall. In seinem Schutz blieb ich einfach liegen. Meine Kräfte waren
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