Schloss der Engel: Roman (German Edition)
nach Christophers Entfaltung fragen.
Paul und Markus betraten mit Leonie und ihrer Freundin Lara, die versuchte, einen Fussel aus Leonies Lockenpracht zu ziehen, die Kantine. Gut gelaunt kamen sie zu mir herüber – unbeschwert, wie immer. Ihr Gespräch drehte sich um den vergangenen Tag und ihre Kanutour über den See. Im Gegensatz zu Susan schienen sie nichts über meine eigentümliche Begegnung mit Christopher zu wissen. Wobei Susans Reaktion, genauer betrachtet, nicht unbedingt darauf schließen ließ, dass sie alles über Christopher wusste.
»Was hast du eigentlich gestern gemacht?«, wollte Paul wissen.
Ich zuckte die Schultern. »Ich hab ausgeschlafen, und danach war ich noch spazieren. Ansonsten ist nichts Besonderes passiert.«
Gespannt wartete ich auf eine Reaktion – sie blieb aus. Offenbar war meine Himmelserscheinung nicht allgemein bekannt, was mich irgendwie erleichterte. Der Gedanke, dass ich mir alles nur eingebildet hatte, wurde stärker. Stresshalluzination – oder Liebeswahn. Möglicherweise waren die Flügel, die ich gesehen hatte, reflektierende Sonnenstrahlen – oder etwas in der Art. Verzweifelt klammerte ich mich an diesen Gedanken, obwohl ich wusste, dass ich mich selbst betrog.
Bis zum Beginn der ersten Stunde wartete ich in der Kantine – weder Aron noch Christopher erschienen zum Frühstück. Auch im Schloss und auf dem Bogenschießplatz war niemand. Und im Grunde war ich froh, noch ein wenig an meiner Illusion festhalten zu dürfen.
Mit Verspätung betrat ich den Kursraum. Eine Entschuldigung vor mich hin nuschelnd, huschte ich zu Leonie, der Einzigen, die ich kannte.
»Wo warst du? Du hattest doch bereits gefrühstückt, als wir in die Kantine kamen. Herr Knoll hat schon nach dir gefragt.«
Leonie zwirbelte ihre Schillerlocken zwischen den Fingern und rutschte zu mir herüber. Ich warf ihr einen beschwichtigenden Blick zu. Sie war in Plauderlaune – ich eher nicht.
»Ich wollte noch auf Aron warten«, entgegnete ich kurz angebunden.
»Aron? Den hab ich gesehen, bevor ich zum Frühstück ging. Er war mit Christopher unterwegs.«
»Und, weißt du auch, wohin?«
»Nö, aber ...« Eine Böe zerzauste Leonies Locken. Sie verstummte und schaute schuldbewusst nach vorne, wo Herr Knoll uns mit einem Kopfschütteln fixierte.
Noch eine Halluzination? Unsicher blickte ich mich um. Alle Fenster waren geschlossen, und eine Lüftung konnte ich nicht sehen. Woher war dann der plötzliche Windstoß gekommen? Ich hatte ihn mir nicht eingebildet. Auch Leonie hatte ihn bemerkt.
Das begeisterte Murmeln meiner Mitschüler lenkte meine Aufmerksamkeit auf einen Behälter mit darin herumwirbelnden Papierschnipseln, den Herr Knoll der Klasse zeigte. Ein Zaubertrick? Ich spürte, wie mein Blut ins Stocken geriet.
Detailliert schilderte Herr Knoll, wie ein karibischer Hurrikan entstand, wie man seine Stärke kontrollieren und seine Richtung beeinflussen konnte. Mit wachsendem Entsetzen verfolgte ich seine Ausführungen, die er mit einem kleinen Wirbelsturm krönte, den er durch die Reihen schickte.
Meine Gedanken überschlugen sich. Kein Mensch auf dieser Welt konnte aus dem Nichts einen Sturm entstehen lassen – zumindest nicht ohne eine entsprechende technische Einrichtung. Und die musste wirklich gut versteckt sein.
Ich befahl meinem Verstand, nicht weiter zu denken, keine voreiligen Schlüsse zu ziehen und bis zum Ende der Stundeabzuwarten. Zuerst beobachten, dann analysieren und auswerten. Gingen so nicht Wissenschaftler vor, wenn sie sich die Welt nicht erklären konnten?
Gerade als ich die vielen Knöpfe am Lehrerpult genauer unter die Lupe nehmen wollte, kam Paul in den leeren Klassenraum gestürmt.
»Wo bleibst du denn? Ich wollte dir doch den Vorbereitungsraum zeigen.« Er stockte, da er meine Verlegenheit bemerkte. »Was hattest du vor? Die Jalousien rauf und runter lassen?«
»Ähm. Nein. Ich wollte nur wissen, wozu die vielen Schalter da sind.«
Paul starrte mich verwundert an. »Ich hätte nicht gedacht, dass du ein Technikfreak bist. Aber wenn du willst, zeig ich dir heute Nachmittag all die Raffinessen, die hier eingebaut sind.«
»Ja, das wär super.«
Ein wenig beruhigter folgte ich Paul zum Tierkunderaum. Obwohl wir nur ein paar Minuten hatten, schleppte er mich in den Vorbereitungsraum. Die Zeit reichte völlig.
Die Ausstellungsstücke in den gläsernen Vitrinen waren alles andere als Vorzeigeexponate eines Biologieunterrichts. Sie erinnerten eher an die Zutaten
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