Schloss der Engel: Roman (German Edition)
erstreckte sich eine uralte Siedlung – eigentlich waren nur noch Ruinen übrig, die zum größten Teil von Gras, Unkräutern und niedrigen Büschen überwuchert wurden. Die einstmalige Anordnung der Gebäude war jedoch deutlich zu erkennen.
Christopher ließ mich los, und ich trat schnell einen Schritt zurück. Seine Nähe beunruhigte mich – nicht nur aufgrund seiner Anziehungskraft. Er wirkte fremd, beinahe beängstigend.
»Als ich ein Kind war, befanden sich diese Häuser in einem besseren Zustand, doch schon damals begannen die Bewohner ihr Dorf zu verlassen.« Mit einer fließenden Bewegung sprang Christopher auf die steinernen Überreste einer der Grundmauern.
Beeindruckt verfolgte ich seinen anmutigen Sprung.
»Die Bewohner trugen die verwaisten Hütten ab und nutzten die Steine, um die Kapelle am See zu errichten.«
Ich schluckte – die Kapelle am See war mindestens dreihundert Jahre alt!
»Das ist einer der Gründe, warum ich sie aufsuche. Sie erinnert mich an meine Kindheit.«
Ich schwieg. Er scherzte nicht. Und gerade das beunruhigte mich. Auch wenn ich manchmal an meinem Verstand zweifelte, war ich mir sicher, dass hier nicht ich der Verrückte war.
»Du glaubst mir immer noch nicht.«
Christopher beobachtete mich prüfend, als wäge er seinen nächsten Schritt genauestens ab. Sorge lag in seinem Blick, dann zögerte er erneut, als hätte er sich anders entschieden. Seine Stimme nahm den vertrauten, weichen Klang an, den ich so liebte, und ich konnte nicht anders, als ihm zuzuhören – beim Weglaufen hätte ich eh den Kürzeren gezogen.
Ausführlich erklärte Christopher mir die Geschichte der alten Siedlung und verlor sich in Details, die unmöglich auf archäologischeUntersuchungen zurückzuführen waren. Ich schwieg weiter – ich hatte gehört, dass man Menschen in verwirrtem Zustand nicht unterbrechen sollte. Zugleich schlugen mich seine lebendigen Schilderungen in ihren Bann. Alte Steine, geheimnisvolle Gemäuer und spannende Geschichten faszinierten mich eben.
Als seine Stimme unvermittelt erstarb, schaute ich automatisch von den Ruinen zu ihm auf. Er stand reglos, als wäre er selbst ein Teil der Mauern, mit verschränkten Armen und zu Fäusten geballten Händen. Ich erschauderte, Christophers Erscheinung jagte mir Angst ein. Er wirkte bedrohlich – unnachgiebig.
»Warum hast du mich belogen?«
Alles Blut wich aus meinem Gesicht. Ich rang um Fassung, wusste ich doch genau, was er meinte. »Wann ... wann meinst du?«
»Ach, du hast nicht nur einmal gelogen?« Seine Züge versteinerten.
Meine Angst verwandelte sich in Ärger. Er regte sich auf, weil ich zu ein, zwei Notlügen greifen musste?
»Warum hast du dein Tutorat abgegeben?«
»Ich glaube nicht, dass das von Bedeutung ist.«
»Ach nein?!«
»Nun, es lag auf der Hand.«
Ach so! Ich sollte meine Ausreden rechtfertigen, und er durfte ganz nach Lust und Laune meine Gefühle an- und ausknipsen? Nicht. Mit. Mir!
»Was willst du von mir, Christopher? Warum hast du mich hierhergebracht? Macht es dir Spaß, mich ... mich ... zu demütigen?« Meine Wut verpuffte mit einem Schlag, als mir klar wurde, wie ich mich fühlte. Verletzt starrte ich zu Boden.
Plötzlich stand Christopher direkt vor mir. Ich zuckte zusammen, da ich ihn nicht bemerkt hatte. Seine Hände berührtenmein Gesicht und hoben es an, so dass ich ihn anschauen musste. Sein Blick verschlug mir den Atem. Weich, warm, voller Sorge.
»Lynn, du musst die Wahrheit wissen, die ganze Wahrheit, damit du dich nicht für etwas entscheidest, das du später bereust.«
»Nur zu. Ich werd schon nicht weglaufen!« Meine Stimme klang fest, beinahe abwehrend. Seine Stimmungsschwankung stachelte mich an.
»Ich bin mir nicht sicher, ob du es verkraftest.«
»Keine Angst, ich bin stärker, als ich aussehe.«
Meine Antwort war flapsig, doch Christopher ging nicht darauf ein. Er blieb ernst und musterte mich – eingehend. Dann traf er eine Entscheidung. Mit einem gigantischen Sprung erklomm er die höchste Erhebung der Ruinen. Er stand im Gegenlicht der untergehenden Sonne. Sein Haar leuchtete Orangegold und ein flammender Schein umgab ihn.
Mein Puls raste. Alles in mir schrie nach Vergebung: für alles Unrechte, das ich je getan hatte, für all die schlechten Gedanken, die ich je gedacht hatte.
Christophers Züge erhellten sich – erstrahlten. Grüne Smaragdaugen funkelten ehrfurchtgebietend und schienen bis tief zum Grund meiner Seele zu blicken. Ich erschauderte. Sein
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