Schloss der Engel: Roman (German Edition)
ich die Ursache. Endlos spannten sich Schnüre von einer Wand zur nächsten. Jede Reihe bestückt mit einem Kraut oder sonst etwas, dessen Herkunft ich gar nicht wissen wollte. Dass es schon lange tot war, roch man, auch wenn in dem düsteren Raum nur Umrisse erkennbar waren. Denn anstatt elektrischer Beleuchtungbevorzugte Ernesta brennende Ölschalen, um ihren Kursraum zu erhellen.
In dem Moment, in dem ich den Raum betrat, warf sie eine Handvoll erlesener Kräuter hinein. Mein Magen rebellierte, als sie lodernd in den Flammen aufgingen. Ich steuerte die hintere Reihe an, doch Ernesta tippte mir bestimmt auf die Schulter und wies mir einen Platz neben Markus und Erika zu.
»Die Neuen sitzen bei mir immer vorne«, dabei wedelte sie mit ihren fleischigen Fingern, die penetrant nach den undefinierbaren Zutaten rochen, die sie gerade in Öl siedete, und scheuchte mich zu meinem Tisch.
Mit feurig erhobener Stimme begann sie ihren Unterricht, wobei ihre orangeroten, vom Kopf abstehenden Locken bei jeder Bewegung auf und ab wippten. Ich presste meine Lippen zusammen, um ein Grinsen zu unterdrücken. Beim besten Willen konnte ich mir Ernesta nicht als Engel vorstellen – zu sehr glich sie mit ihrer wilden Mähne, ihren Knitterfalten und den Utensilien, die sie für den Unterricht brauchte, einer durchgedrehten Kräuterhexe.
Ehe ich mich mit der Unterstützung eines fortgeschrittenen Schülers – zu meiner Freude mit Paul – an die Zubereitung meiner ersten Kräutermischung heranwagen durfte, wiederholte Ernesta den Unterrichtsstoff der vergangenen Stunde. Sie mahnte uns zur Vorsicht beim Umgang mit Fingerhut und Küchenschelle sowie weiteren Pflanzen, deren Namen mir nicht geläufig waren, oder anderen Zutaten, deren Ursprung meine anfänglichen Befürchtungen bestätigten.
»Du siehst ziemlich blass aus«, begrüßte mich Paul mit einem seit meiner Unaufmerksamkeitsnummer offenbar für mich reservierten Grinsen an unserem Arbeitsplatz in einer der bogenförmigen Nischen der Turmwand.
»Der Geruch scheint mir nicht zu bekommen«, entgegnete ich.
»Gestank trifft’s wohl eher. Aber keine Sorge, du wirst dich daran gewöhnen, wenn dir deine Duftmischung gelingt.«
Ich hob besorgt die Augenbrauen. »So wie bei Bös muss Bös vertreiben? « Eine Mischung, die diesen Gestank überlagern konnte, wollte ich mir gar nicht ausmalen, geschweige denn selbst zusammenmixen.
»So in etwa«, antwortete Paul mit einem verzückten Ausdruck auf dem Gesicht. Anscheinend standen angehende Wächterengel auf skurrile Sachen: in Formaldehyd eingelegte Monster, stinkende Kräuter und verwesende – was auch immer!
Ich verschränkte die Arme und warf ihm einen gelangweilten Blick zu, was seine Erwartung, dass ich zu würgen begann, zunichtemachte.
»Also gut. Dann eben Unterricht und keine Freistunde, in der ich mit dir zum Frische-Luft-Schnappen nach draußen gehe.«
Ausführlich erklärte mir Paul die Verarbeitungsmethode und Wirkungsweise der einzelnen Zutaten, mit denen sich jeder in seiner ersten Stunde ein sogenanntes Schlafsäckchen anfertigte.
»Das legst du dann am Abend vor der nächsten Heilmittelstunde unter dein Kopfkissen. Wenn du alles richtig gemacht hast, riechst du nach dem Aufstehen bestimmte Gerüche eine Zeitlang nicht mehr. Deshalb solltest du auch nicht vergessen, an welchem Tag du Heilmittelkunde hast.«
Er überreichte mir eine Liste der Kräuter und erklärte mir, wie ich sie in der chaotischen Anordnung von Schubladen, Kästen und Kästchen finden konnte, die sich in den restlichen Nischen des Turmkellers stapelten. Bevor ich zur Tat schritt und die erste Schublade öffnete, verpasste mir Paul mit einem weiteren unverschämten Grinsen eine überdimensionale Nasenklammer.
»Glaub mir, es wird auch mit ihr schlimm genug.«
Ich bedachte Paul mit einer garstigen Grimasse, doch schon nach der ersten Zutat wusste ich, was er meinte.
Das stinkende Übel – wie ich mein Kräutersäckchen nannte – verlor seinen widerlichen Geruch, noch bevor ich es in mein Zimmer bringen konnte, wo es völlig unscheinbar in einer Schublade meines Schreibtisches auf seinen ersten Einsatz wartete.
Kapitel 11
Steingrab
N ach Unterrichtsende beschloss ich, den alten Ruinen einen Besuch abzustatten. Sie schienen weit mehr zu verbergen, als auf den ersten Blick zu erkennen war. Vor allem aber würden sie mir etwas über Christophers Kindheit verraten.
Ich schritt das Gelände der Siedlung ab. Sie war wesentlich größer, als
Weitere Kostenlose Bücher