Schloss der Engel: Roman (German Edition)
ich ursprünglich angenommen hatte; vor allem entlang des Bachlaufs reihten sich viele der alten Grundmauern aneinander. Bis weit in den Wald hinein verfolgte ich ihre Spuren.
Es war herrlich, am Ufer des munteren Bachs durch den sonnenbeschienenen Wald zu laufen und hin und wieder Zeugnissen der Vergangenheit zu begegnen. Ich folgte dem verschlungenen Wasserlauf und malte mir aus, wie Christopher hier mit seinen Freunden gebadet und Fische gefangen hatte, bis ich mir sicher war, auf keine weiteren Überreste mehr zu stoßen, und auf direktem Weg zur Siedlung zurücklief.
Kaum hatte ich den Flusslauf verlassen, lichtete sich der Wald und eröffnete den Blick auf eine Ebene mit einem kleinen Hügel in der Mitte. Ein überraschter Pfiff rutschte mir durch die Zähne: Ein altes Hünengrab, bestehend aus sechs mächtigen Grund- und zwei noch größeren Decksteinen, thronte auf ihm. Natürlich machte ich mich gleich an seine Erkundung.
Der Grabhügel war aufgeschüttet, und sein Fundament bestand wahrscheinlich ebenfalls aus einer Schicht von Steinen. Dazwischen musste der Hohlraum liegen, in dem die Toten einst bestattet wurden.
Ein Frösteln durchrieselte mich, da mir bewusst wurde, dass ich vor einem Massengrab stand, in dem mit Sicherheit noch alle sterblichen Überreste ruhten. Als ich schließlich darüber nachdachte, was wohl mit den Resten meiner sterblichen Hülle geschehen war, verstärkte sich die Kälte in mir. Das Hünengrab erschien mir auf einmal nicht mehr so verlockend, und da es noch früh am Nachmittag war, beschloss ich, auf dem Rückweg ein paar Blumen zu pflücken und bei der Kapelle am See vorbeizuschauen. Bestimmt konnte ich Christopher überreden, mich bei Gelegenheit zu dem Steingrab zu begleiten.
Auf dem kürzesten Weg durchquerte ich den blumenlosen Wald – Christopher musste eine verborgene Fundstelle kennen – und erreichte einen Pfad, der zum See führte. Ich freute mich, dass es mir in dem verwirrenden Dickicht gelungen war, die Orientierung zu behalten. Kurz vor der Kapelle erreichte mich die Spur eines wohlvertrauten Dufts – Gewitterregen! Mein Herz schlug sofort um zwei Oktaven höher, hatte ich doch mit Christopher heute eigentlich nicht mehr gerechnet. Bestimmt war er auf der Suche nach mir.
Freudestrahlend umrundete ich die letzte Biegung, bevor mir das Lächeln auf den Lippen gefror. Unweit der Kapelle stand Christopher – in seinen Armen Susan!
Ich starb in dieser Sekunde.
Was für ein eigenartiges Gefühl. Wut wäre mir lieber gewesen. Damit konnte ich umgehen. Aber anstatt loszuschreien, zu toben oder etwas gegen die Wand zu werfen, erstarrte ich. Alle Wärme in mir erlosch und zerfiel zu eiskaltem Staub – war ich mir seiner Liebe doch so sicher gewesen!
Tränenüberströmt schlich ich zu den Steingräbern zurück. Ich wollte allein sein und weder Christopher noch sonst jemanden sehen. An dem verlassenen Grab sank ich schluchzend zu Boden. In diesem Moment glaubte ich, niemals wieder mit Weinen aufhören zu können – haltlos strömten die Tränen aus mir heraus.
Warum? Warum hatte er mir gestern seine Gefühle offenbart, wenn er mich heute schon vergessen hatte? Konnten, durften Engel so unbarmherzig sein? Verzweifelt ertrank ich in meinem Schmerz.
Eine zierliche Hand legte sich vorsichtig auf meinen Rücken. Ein Funke Wut erwachte in mir. Ich fuhr herum und blickte in das Gesicht einer jungen Frau. Sie war beinahe wunderschön. Irgendetwas, das ich auf Anhieb nicht sehen konnte, passte nicht – vielleicht ihre tiefschwarzen Augen.
»Kann ich dir irgendwie helfen?«, fragte sie freundlich.
»Ja! Indem du mich in Ruhe lässt«, zischte ich, was die Frau zurückweichen ließ.
Doch anstatt zu verschwinden, taxierte sie mich mit einem mitfühlenden Blick. »Du hast jemanden verloren, der dir sehr am Herzen liegt, nicht wahr?«
»Kannst du nicht einfach gehen?«
»Nein«, antwortete sie ungerührt. »Nicht, solange du mir nicht verrätst, wohin du gehörst. Kommst du vom Schloss?«
»Ja, und ich möchte alles andere, als mich mit jemandem zu unterhalten.« Das Verpiss dich endlich! schluckte ich hinunter. Die Hartnäckigkeit der Frau verunsicherte mich, weshalb ich mir verärgert die Tränen aus dem Gesicht wischte.
»Es könnte dir helfen, wenn dir jemand Trost spenden würde. Und da du offensichtlich allein bist, werde ich das übernehmen.«
Sie nahm ihr schwarzes Schultertuch ab, wickelte es um meinen bebenden Körper und setzte sich schweigend neben
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