Schloss der Engel: Roman (German Edition)
an.
»Du bist verschlossen, als ob es dein erster Tag an der Schule wäre. Hast du beim Meditationstraining nicht gelernt, wie du deinen Geist öffnest? Oder hattest du Besseres vor, als dem Unterricht zu folgen?«
Rafeks Strafpredigt ließ mich innerlich schrumpfen. Sein Tonfall erinnerte mich an unseren Pastor, wenn er die Jungs unseres Dorfes abkanzelte, nachdem sie etwas wirklich Schlimmes angestellt hatten. Bevor ich mich rechtfertigen und ihm erklären konnte, dass – zumindest in meinem bisherigen Leben – noch kein Meister vom Himmel gefallen war, befahl er mir, beiseitezutreten und mich aufs Zuschauen zu beschränken.
Ich rührte mich den Rest der Stunde nicht von der Stelle – selbst Christophers aufmunternde Blicke konnten meine zunehmende Aversion gegen Rafek nicht vertreiben – und flog förmlich zur Tür hinaus, als er den Unterricht beendete.
Kaum hatte ich das Schulgebäude verlassen, legte sich Christophers Arm um meine Schulter. Seine unerwartete Nähe überraschte mich, und ich wäre beinahe vor ihm zurückgewichen.
»Was hast du?« Die Stirnfalte zwischen Christophers Augen blitzte auf.
»Nichts«, beschwichtigte ich. Da er seine angespannte Haltung beibehielt, fügte ich hinzu: »Ich bin es nicht gewohnt, aufdiese Weise getröstet zu werden, wenn ich etwas vermasselt hab – aber ich könnte mich durchaus daran gewöhnen.«
Christophers Gesichtszüge glätteten sich, doch seine achtsame Körperhaltung blieb.
»Dann betrachte meine Aufmerksamkeit während des nächsten Meditationstrainings als weiteren Zuspruch. Ich habe Rafek versprochen, ein wenig mit dir zu üben.«
Ich verkniff mir einen Kommentar über Rafek. Eine Meditationsstunde unter Christophers Aufsicht hörte sich vielversprechend an und half mir, nicht länger über die offensichtliche Abneigung meines Gefahrenabwenden-Lehrers nachzudenken.
Wir ließen das Schulgelände hinter uns und steuerten auf die verlassene Siedlung zu. Ich genoss Christophers Nähe – sie beruhigte mich nicht nur, sondern ließ mich auch meine Unzulänglichkeit vergessen. Gleichzeitig suchte ich nach Antworten auf die vielen Fragen, die sich angesammelt hatten.
»Ich kann immer noch nicht so recht verstehen, wie ich gestorben und im Schloss der Engel gelandet bin. Werden denn alle Menschen nach ihrem Tod zu Schutzengeln?«
Christopher, der auf einem Mauersockel Platz genommen hatte, entspannte sich ein wenig. »Fragestunde, wie es scheint.«
Ich nickte und blieb vor ihm stehen.
»Natürlich werden nicht alle Menschen Schutz- oder Wächterengel, sonst wäre es hier schnell überfüllt.« Das amüsierte Grinsen über meine anscheinend dämliche Frage verschwand und wich einem undefinierbaren Ausdruck. »Nur wenigen wird diese Aufgabe zuteil. Es bedarf gewisser Eigenschaften, um Schutz gewähren zu können.«
Die Christopher in meinen Augen im Überfluss besaß – aber offenbar nicht in seinen. Ich verschob meine drängendste Frage auf später. Es gab so vieles, was ich wissen wollte.
»Gibt es nur diese eine Schule hier?«
»Nein. Engelschulen gibt es überall auf der Welt. Je nachdem,in welchem Alter man stirbt und welche Eigenschaften einem obliegen, wird man einer entsprechenden Einrichtung zugeteilt.«
»Dann«, ich runzelte vor Unbehagen automatisch die Stirn, »dann behalten Menschen, die im hohen Alter sterben, ihre gebrechlichen Körper?«
Christophers samtwarmes Lachen hallte über die Wiese. Als er meine Verärgerung bemerkte, nahm er meine Hand, drehte sie um und küsste entschuldigend die Innenfläche.
Ich widerstand dem Impuls, meine Augen zu schließen und mich dem verlockenden Prickeln hinzugeben, das meinen Arm emporkroch – und Christopher fuhr mit seinen Ausführungen fort.
»Ab einem gewissen Alter darf man sich aussuchen, ob man eine seiner jüngeren Erscheinungsformen annehmen möchte. Aber du wärst überrascht, wie viele das ablehnen, wenn ihr betagter Körper erst einmal von den Gebrechen des Alters befreit ist.«
Ich entzog Christopher meine Hand – seine Berührung erschwerte mir das Denken, und so leicht wollte ich mich nicht ablenken lassen.
Eine Zeitlang lief ich auf und ab, um über seine Erklärungen nachzudenken. Ich war noch jung und auch so geblieben – was völlig okay war –, und bei all meinen Mitschülern war es genauso. Doch nicht jeder Mensch wurde zum Engel, was in mir wiederum ein ungutes Gefühl hinterließ. Und nicht alle Engel besaßen dieselben Eigenschaften. Selbst einem Blinden wäre
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