Schloss der Engel: Roman (German Edition)
ich die Tür meiner Kammer hinter mir zuzog, brachen die Tränen hervor, die die ganze Zeit in meinen Augen gebrannt hatten.
Ich wusste nicht, wie ich Christopher ausweichen konnte, also beschloss ich, eine Begegnung mit ihm so lange wie möglich hinauszuzögern. Anstatt zu frühstücken, legte ich mir zwei kalte Kompressen auf die Augen, in der Hoffnung, die Rötung zu lindern.
Kaum hatte ich meine Kammer verlassen, kam Aron die Treppe hochgeeilt. Ich zögerte. Vielleicht wäre es besser, einfach zurück in mein Zimmer zu flüchten. Arons Kopfschütteln signalisierte mir, dass ich damit nicht durchkommen würde.
»Coelestin möchte dich sprechen – nach deinem Tierkundeunterricht.«
Ich seufzte erleichtert.
»Dacht ich’s mir doch, dass du heute nicht besonders scharf auf ein Lanzetraining mit Christopher bist«, erriet er meine Gedanken.
Aron holte mich nach Tierkunde ab und begleitete mich bis zur Tür des Schulleiters, um sicherzugehen, dass ich den Termin nicht verpasste. Ich versuchte mich zu sammeln, klopfte an und betrat zögernd den Raum.
Coelestin legte seine Schreibfeder beiseite und begrüßte mich. Die Narben, die seine linke Gesichtshälfte durchzogen, wirkten angesichts seines aufmunternden Lächelns weit weniger furchterregend. Unzählige Falten blitzten in seinem Gesichtauf. Er war wesentlich älter, als ich angenommen hatte – wenn das bei Engeln überhaupt eine Rolle spielte.
Coelestin wies mir einen der gemütlichen Sessel zu, der, wie sein aufgeräumter Schreibtisch, die schwarzpolierten Regale und der gläserne Beistelltisch, überraschend modern war, und nahm mir gegenüber Platz.
»Christopher hat mir berichtet, was gestern passiert ist.«
Ich zuckte unmerklich zusammen, als er Christophers Namen erwähnte.
»Du hast unfreiwillig mit der Gruft der Toten und ihrer Wächterin Bekanntschaft gemacht. Erstaunlich, dass du so einfach zu ihr vordringen konntest. Du musst alle Warnsignale ignoriert haben.«
»Anscheinend.« Ich zuckte mit den Schultern. Abgesehen davon, dass mir das Steingrab von Anfang an nicht geheuer war, hatte ich nichts bemerkt.
»Dann muss in dir ein wahrer Gefühlssturm getobt haben, wenn sie dir entgangen sind«, sinnierte er.
Ich presste die Lippen aufeinander, schwieg und hoffte, dass er meine Gedanken nicht erraten konnte. Doch ich ahnte, dass Coelestin wusste, wie ich zu Christopher stand. Schließlich hatte der ja schon mit ihm gesprochen.
»Lynn, ich kann dich zwar noch nicht bitten, mir in deiner Engelsgestalt zu antworten, aber ich gehe davon aus, dass du mir trotzdem ehrlich antworten wirst.« Coelestins ganze Aufmerksamkeit war nun auf meine Augen gerichtet, als wolle er durch sie hindurch in meine Seele blicken. »Gab es irgendetwas in der Gruft, das dir sonderbar vorkam, dich beunruhigt oder verängstigt hat?«
Ich schluckte, während ich an mein schauriges Gefängnis zurückdachte. Alles dort unten war sonderbar und beängstigend. Nicht nur der Inhalt, auch meine unkontrollierbaren Gefühle. Aber Coelestin hatte nicht nach meinem Befinden gefragt.
»Nun ja, ich bin noch nie zuvor auf einem Skeletthaufen gelandet.«
Coelestin nickte, ohne mich aus den Augen zu lassen. »Konntest du auch etwas anderes wahrnehmen? Etwas ein wenig Lebendigeres, vor dem du dich gefürchtet hast?«
Ich schüttelte wahrheitsgemäß den Kopf. »Nein, außer der Dunkelheit und dem Wissen, in einem modrigen Grab festzustecken, gab es nichts. Oder ist das nicht genug, um Angst empfinden zu dürfen?«, erwiderte ich sarkastisch.
Coelestins für den Bruchteil einer Sekunde nach oben zuckende Mundwinkel entgingen mir nicht. Auch nicht, dass seine Konzentration sich verstärkte, als er auf den springenden Punkt kam.
»Fürchtest du dich vor Christopher?«
Plötzlich hielt ich Coelestins durchdringendem Blick nicht länger stand. Ja, Christopher konnte furchteinflößend sein. Auch ein Mitschüler, der mit geballter Faust auf einen losstürmte, war das, aber das war nicht der Grund, warum ich Christopher aus dem Weg gehen wollte.
»Nein, nicht ... nicht wirklich.«
»Was meinst du mit nicht wirklich ?«
Meine Antwort reichte Coelestin nicht, und ich suchte nach einer besseren Erklärung. »Ich konnte sehen, wie mächtig Christopher ist, und weiß, dass er gefährlich werden kann, doch ich bin mir sicher, dass er keinem seiner Freunde jemals«, ich geriet in Stocken. Ich wollte wehtun sagen, doch das stimmte nicht. Er hatte mir wehgetan, aber so meinte ich das nicht.
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