Schlossblick: Kollers fünfter Fall (German Edition)
von oben auf mich herab – Kunststück, bei fast zwei Metern
Länge. Vermutlich um nicht noch größer zu wirken, hatte er sein Haupthaar raspelkurz
geschoren. Trotzdem wirkte der Koloss eher müde als bedrohlich.
»Ja, wo möchte ich denn hin?«, lächelte ich.
»Hier geht’s jedenfalls nicht weiter.«
»Und das Zimmer da?« Ich zeigte auf die letzte, einsame Tür des Flures,
neben der eine 015 prangte und sonst nichts.
»Können Sie nicht rein.«
»Warum nicht?«
»Patientenbereich. Verboten.«
»Ich will ja auch gar nicht rein. Wer liegt denn da?«
»Niemand. Würden Sie jetzt bitte gehen? Die Kranken brauchen ihre Ruhe.«
»Verstehe ich«, flüsterte ich. »War ja selbst mal krank. Wie geht es
dem Herrn da drin?«
Keine Reaktion. Wenn ihm ein verständnisloses ›Herrn?‹ entschlüpft
wäre, hätte ich gewusst, dass der Bewohner von Zimmer 015 eine Bewohnerin war. Leider
sind diese Zweimeterschränke in ihren schlecht sitzenden Anzügen nur im Kino so
doof.
»Würden Sie nun bitte gehen?«, wiederholte der Mann.
»Logo. Mache ich. Will ja keinen Ärger. Wobei mich schon interessieren
würde, wie es unserem Patienten geht. Ob er es überleben wird.« Ich zog eine besorgte
Miene auf, die das Riesenbaby nicht im Geringsten beeindruckte.
»Bitte.« Seine Pranke zeigte Richtung Ausgang.
»Ich bin schon weg«, flötete ich und verzog mich.
Tja, das war er, mein glorreicher Ausflug in die Heidelberger Chirurgie,
und ich ging mit dem seltsamen Gefühl, dass mir in der Nähe von Zimmer 015 genau
die Knochenbrüche drohten, die sie im selben Haus reparierten. Falls der Riese versehentlich
auf mich drauffiel zum Beispiel. Und das wollte ich dann doch nicht riskieren.
Einen Nachschlag gab es aber noch. Als ich das Gebäude verließ, nickte
mir der Filzbubi an der Pforte fröhlich zu. Ich nickte zurück, weniger fröhlich,
doch dann kam mir eine Idee. Wo war mein Handy? Ich rief die gespeicherten Bilder
auf und wartete, bis kein Besucher mehr an der Pforte herumlungerte. Dann ging ich
zu dem Jungen.
»Nicht erschrecken«, sagte ich. »Der Mann auf dem Foto hat ein paar
gesundheitliche Probleme. Vor ein paar Tagen, als er sie noch nicht hatte, könnte
er hier gewesen sein. Erinnern Sie sich?«
Ich hielt ihm das Mobiltelefon vor die Nase. Der Anblick des toten
Schallmo schien ihn nicht besonders zu erschüttern. Krankenhausroutine halt. Er
überlegte kurz, dann nickte er. »Klar, der war hier. Am Dienstag. Weiß ich genau,
war ja mein zweiter Tag überhaupt an der Pforte.«
»Wie soll das erst werden, wenn Sie auch noch Erfahrung haben?«, sagte
ich und steckte das Handy ein.
18
Krankenhäuser sollen ja krank machen. Moment, was heißt sollen? Wissenschaftlich
bewiesen ist das, oder wenigstens so gut wie. Man kommt rein, gesund und munter,
läuft versehentlich an einem Röntgengerät vorbei, und schon schlagen alle, die einen
Dr. vor dem Namen tragen, die Hände über dem Kopf zusammen. Gefunden wird immer
etwas, zur Not an Körperteilen, von denen man gar nicht wusste, dass man sie besaß.
Am Pschyrembelschen Normmenschen scheitert jeder von uns, ob privat oder gesetzlich.
Krank fühlte ich mich zwar nicht, als ich das
Klinikgelände verließ, dafür ziemlich erschlagen. War doch einiges los gewesen seit
dem Anruf der Lektorin heute Morgen. Mit der hatte ich übrigens noch ein Hühnchen
zu rupfen. Saß da in ihrem hochliterarischen Elfenbeinturm und hielt meine Erfahrungsberichte
für übertrieben! Zu viel Sex? Ich empfehle einen Blitzbesuch im Garten der Warburgs.
So dick trug das Leben nicht auf? Was würde Madame dann zu dem Flachlandgorilla
sagen, der vor Zimmer 015 Däumchen drehte? Die waren nämlich verdammt dick, seine
Daumen, ich hatte es gesehen! Dicker, als der Pschyrembel erlaubt.
Auch ohne Approbation stellte ich mir daher die Diagnose akuter Erschöpfungszustand
und verordnete absolute Ruhe für die nächsten 60 Minuten. Zu Hause angekommen, aß
ich einen Happen, blätterte die Zeitung durch und legte mich aufs Ohr. Ein Nickerchen
hätte mir gutgetan, doch da waren zu viele Fragen in meinem Kopf, zu viele Bilder
und Sätze. Die Privatstation. Die voll verschleierten Araberinnen. Daniels offener
Hosenstall. Und natürlich Inez, immer wieder Inez, mit ihrem Trotz und ihren Tränen.
Wenig erholt stand ich schließlich auf und machte mir einen Kaffee.
Während ich in der Tasse rührte – was, zubereitungstechnisch gesehen, entbehrlich
war, schließlich trank ich meinen Kaffee
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