Schlüsselfertig: Roman (German Edition)
zu wollen.
Ich nehme einen Schluck; zwar ist es erst sechs Uhr abends und draußen immer noch dreißig Grad warm, aber Brigitte versteht etwas von Wein, und außerdem soll in dieser Art Getränk ja die Wahrheit verborgen sein. Und Wahrheit ist doch das, was ich will – oder verwechsle ich das jetzt mit Klarheit? Zu spät.
»Der ist lecker«, sage ich, und dann übergangslos: »Sag mal, wie stellst du dir deine Zukunft vor?« Auf so eine spontane Frage erwarte ich natürlich keine Antwort. Trotzdem kommt sie ohne Zögern: Ein Weingut hätte sie gerne, dort will sie sich von ihrem Freund Wolfgang als schönste, begabteste und begehrenswerteste Winzerin der Welt anbeten lassen. Wo das Weingut ihrer Träume sich befindet, weiß sie noch nicht, zur Zeit favorisiert sie Italien. In fünf bis sechs Jahren soll das sein, dann will sie auf keinen Fall mehr hier im Dorf leben und auch nicht mehr als Kindergärtnerin arbeiten. Sie hätte selbst gerne ein Kind, mit Wolfgang natürlich. Brigitte weiß auch, dass sie in einem Jahr längere Haare haben wird als heute und eine schlankere Taille, weil sie sich fest vorgenommen hat, trotz Schnepfenalarm zum Aerobic zu gehen.
Brigitte weiß alles über ihre Zukunft. Ekelhaft genau kann sie die Details beschreiben und muss dazu noch nicht einmal lange nachdenken. Ich wage es nicht, sie nach dem Wetter und der Menufolge ihres fünfzigsten Geburtstages zu fragen, aus Angst, sie hätte auch darauf eine Antwort.
»Und wenn ich fünfzig werde«, setzt Brigitte unaufgefordert nach, »dann sitze ich in der Sonne am Strand und ernähre mich ausschließlich von frischen Früchten und selbst gefangenem Fisch. Zu meinem Geburtstag kannst du dich jetzt schon als eingeladen betrachten. Aber erwarte bloß keinen Kuchen!«
Das ist ja widerlich. War die schon immer so?
Wenn ich ehrlich bin, muss ich sagen: ja. Brigitte wusste schon immer, was sie wollte. Vor dreizehn Jahren hat sie beschlossen, dass wir befreundet sind. Wir waren beide vierzehn, als sie mit ihren Eltern ins Dorf gezogen ist. Die Familie kam direkt aus Singapur, weil ihr Vater beschlossen hatte, dass nach den hektischen Großstadtjahren etwas Landidylle gut für die Nerven seiner Lieben sein würde. Brigitte hatte orangerotes Haar und trug wehende Pumphosen. Ich wusste damals nicht, ob das nun einem exotischen Singapur-Style entsprach oder ihr ganz persönlicher Geschmack war – ich vermute mal: letzteres –, aber ich weiß noch, wie beeindruckt ich allein von ihrer Erscheinung war. Nicht nur ich: Alle waren hin und weg, zwischen fasziniert und schockiert. So eine hatten wir noch nicht gesehen. Binnen kürzester Zeit tauschte sie mit den coolsten Jungs an der Schule AC/DC-Singles, hatte den Mathelehrer zum Feind, dafür aber alle Sportlehrer als Fans, weil sie brillant Handball spielte, und einen Stammplatz im Schulbus: Die vorletzte Bank, direkt über der Heizung und etwas höher als die anderen Sitze. Der beste Platz im Bus. Niemand wagte, ihn ihr streitig zu machen. Und der Sitz neben ihr blieb immer frei, aus Respekt und ein bisschen sicher auch aus Angst. Eines Tages rief sie mir zu, als ich einstieg: »Hey, Silke, ich habe dir einen Platz frei gehalten!« Die anderen Schüler hielten den Atem an: Silke? Wieso ausgerechnet Silke? Ich setzte mich neben Brigitte. Und freute mich.
»Tolle Brille hast du auf! So eine wollte ich schon immer haben.«
Das verwirrte mich nun vollends. Ich war, selbst bei wohlwollender Betrachtung, ziemlich langweilig, und meine Brille ein ebenso schlichtes Modell mit Goldfassung von einem Uraltoptiker aus einem ziemlich unwirtlichen Viertel der nahegelegenen Großstadt. Besonders viel Auswahl hatte der nicht, aber meine Familie ging immer dorthin, weil der Laden direkt neben der Augenarztpraxis lag und diese wiederum nur ein paar Straßen von dem Betrieb entfernt, in dem mein Vater arbeitete.
Noch am selben Nachmittag machten Brigitte und ich uns auf den Weg zu diesem Optiker, eine kleine Weltreise. Brigitte suchte sich genau das gleiche Modell aus, rund und golden. Wir sahen aus wie kleine Mädchen, die John Lennon und Reinhard Mey gleichzeitig kopieren, fanden uns aber unglaublich cool. Dann stiegen wir in den falschen Bus, verfuhren uns in der großen Stadt, guckten Saturday Night Fever in einem schrabbeligen Programmkino, in dem jeder zweite Sitz zerbrochen war, fanden wie durch ein Wunder wieder nach Hause und amüsierten uns, wie wir uns noch nie im Leben amüsiert hatten. Halt, das gilt
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