Schlüsselfertig: Roman (German Edition)
die ich da eben beschrieben habe, steht bei deinen Eltern im Wohnzimmer. Deine Mutter hätte nächstes Jahr bestimmt gerne eine neue Sitzecke, deshalb schiebt sie die alte an dich ab. Ich kenne Heiner, die Knauserigkeit seiner Familie, ich kenne das ganze Dorf. Ich weiß, wie man hier lebt. Und dich kenne ich einfach schon lange – aber ob ich dich gut kenne, das weiß ich manchmal gar nicht so genau.«
Etwas verwirrt antworte ich: »Wie meinst du das?« Ein kurzer Blick auf die Weinflasche. Die ist noch halb voll, Brigitte ist also nicht betrunken. Sie weiß anscheinend, was sie sagt. Und sie sagt: »Ich habe keine Ahnung, was du eigentlich willst, Silke. Du scheinst mit deinem Leben zufrieden zu sein, aber wahre Begeisterung ist da selten zu spüren. Ich habe dich nie um etwas kämpfen sehen. Du hast genommen, was du bekommen hast, und das schien dir immer genug zu sein.«
Das klingt jetzt irgendwie nicht nett, finde ich. Vielleicht bin ich ja gar nicht zufrieden, sondern nur zu friedfertig zum Kämpfen! Ich greife schnell zu den angeschmolzenen Schoko-Nikoläusen auf dem Tisch vor mir, um zu beweisen, dass ich manchmal sehr wohl weiß, was ich will, und wundere mich einen Moment: Nikoläuse im Mai?
»Brigitte,« frage ich, »warum steht hier ein bunter Teller? Haben wir Weihnachten? Es ist schon fast Sommer!«
»Du lenkst ab. Eine beliebte Taktik von dir.«
Das stimmt. Alles, was Brigitte sagt, ist wahr. Noch mehr dieser Wahrheiten kann ich an einem Abend nicht ertragen. Deshalb verabschiede ich mich – nicht ohne noch schnell einem Nikolaus den Kopf abzubeißen.
Zu Fuß brauche ich nur fünf Minuten nach Hause, deshalb gehe ich einen Umweg durch das Neubaugebiet. Der Name täuscht, die Häuser hier wurden in den frühen Siebzigern gebaut, sind längst von hohen Koniferenhecken umgeben, durch die Flachdächer regnet es rein, Carports stehen vor den Fassaden wie Zahnspangen. Früher gab es nur eine Garage pro Haus, doch dann kam der Wohlstand, mit dem Wohlstand ein Zweitwagen für die Frau Gemahlin und schließlich auch ein Carport. Neuerdings stehen quer vor dem Kleinwagen der Gattin immer öfter Motorräder. Schwere Maschinen, mit denen sich die über fünfzigjährigen Ehemänner die Midlife-Krise aus Hirn und Knochen knattern wollen. Die Dame des Hauses verfällt eher dem Dekowahn.
Die Ecke da vorne meide ich, dort wurde ich mal von einem kleinen schwarzen Hund gebissen. Das ist zwar mindestens achtzehn Jahre her und der Hund seit mindestens zehn Jahren unter dem Staudenbeet vergraben, aber man kann nie wissen.
Ich bin in diesem Ort aufgewachsen, verbinde mit jeder Straße, jedem Stück Rasen, jeder Bushaltestelle – okay, es gibt nur zwei – Erinnerungen. Doch manchmal, wenn ich morgens aus dem Haus gehe und zum Beispiel einen Brief einwerfen will, muss ich nachdenken: Wo war noch die Post? Wie komme ich da hin? Oder: Welches ist der kürzeste Weg vom Schützenhaus zum Supermarkt? Ich vergesse die einfachsten Routen. Ist doch seltsam.
Dabei bin ich hier zuhause. Bald sogar noch mehr: Ich werde ein Haus haben. Zumindest werde ich eines bewohnen. Ein ganzes.
Eine Liste werde ich schreiben. So, wie es in den Frauenzeitschriften immer empfohlen wird. Eine Liste mit meinen Zielen. Darauf wird stehen, was ich wirklich will. Ich werde es herausfinden. Ich werde dafür kämpfen. Morgen. Ach nee, morgen muss ich ja mit Mutti zum Treffen des Landfrauenvereins.
***
Donnerstag, 5. Mai
Hier im Dorf reicht es nicht, nur in einem Verein zu sein. Wenn man sich nicht verdächtig machen will, die Dorfgemeinschaft zu unterwandern und zu sabotieren, tritt man am besten allen Vereinen bei, zumindest den geschlechtsspezifisch dafür vorgesehenen. Was der Schützenverein für die Herren, das ist der Landfrauenverein für die Damen. Da wird zwar nicht mit einem Luftgewehr auf eine Scheibe mit Tiermotiv geballert, aber mindestens ebenso scharf geschossen. Die Waffen der Landfrauen sind blaukajalumrandete Verachtungsblicke, in süßlichem Ton vorgetragene, als Kompliment getarnte Gehässigkeiten und ein unerschütterliches Selbstbewusstsein. Damit meine ich vor allem die neue Generation, die unter dem Decknamen Ideenkreis junger Landfrauen die wahre Macht im Dorfe innehat. Unumstrittene Königin des Ideenkreises ist Monique. Sie hält inmitten der ihr treu ergebenen Freundinnen Hof, alle aufgedonnert, als hätten sie am Casting für ein Denver-Clan -Revival teilgenommen. Monique ist Friseuse, ihr gehört der Salon an
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