Schlüsselspiele für drei Paare
Sie hockte sich auf einen Kilometerstein und sah den Schienenstrang entlang. Die blanken Stahlbänder schimmerten. Lautlos rieselte der Regen.
Wie sollte man es dem Vater sagen, dem Studienrat Bentrob, der sowieso nicht verstand, daß die Jugend nicht mehr im Panzer der Heuchelei lebte, sondern offen sagte, was sie dachte, und das war nicht immer schön. Und Ernst Fallers? Ihm hatte sie gesagt, in jener Nacht sei nichts geschehen, und er glaubte es bis heute. Wer konnte von ihr die Kraft verlangen, nun vor ihn zu treten und zu sagen: Ich bekomme ein Kind von Ostra. Ich habe dich belogen. Aus Scham habe ich dich belogen. Aus Angst. Ich dachte, es würde nie mehr darüber gesprochen werden; ein böser Traum sollte es sein. Und nun trage ich diesen Traum in meinem Leib, und er wächst und wächst …
Sie starrte auf die nassen Bohlen zwischen den Schienen und beugte sich vor. Ihre Finger strichen über die Schiene. Sie war kalt, glatt und fettig. Schauer rannen über ihren Rücken. Dann weinte sie, saß wieder auf dem Kilometerstein und hatte die Hände vor das Gesicht gelegt.
In der Ferne, von Feldafing, pfiff es. Der nächste Zug. In fünf Minuten war er hier. Der Zug, der aus dem Leben fährt … der alle Angst vernichtet, alle Lüge zermalmt.
Julia Bentrob erhob sich. Sie schlug den Kragen des durchnäßten Mantels hoch, kniete sich auf eine Bohle zwischen den Schienen, faltete die Hände vor der Brust und schloß die Augen. Unter ihren Knien spürte sie die Vibration des kommenden Zuges, die Gleise zitterten, die Bohle schwankte leicht.
Noch drei Minuten …
Ein greller Pfiff, das Herz zerreißend.
Vater, leb wohl … verzeih mir … verzeih mir …
Das Rollen der Räder. Der Boden bebte.
Ernst … ich liebe dich … ich liebe dich … aber ich kann nicht leben mit dem, was in mir wachsen muß …
»Mutter!« schrie Julia Bentrob auf. »Mutter, hilf mir!«
Sie sprang auf und blickte in den grauen Himmel. Der Regen rieselte über ihr Gesicht, und er war kühl und herrlich. Sie sah den Zug um eine Biegung kommen, zwischen hohen Büschen schoß er hervor, ein keuchendes, schnaufendes Riesentier …
Mit einem Satz sprang Julia von den Schienen, stolperte und rollte einen kleinen, von Nässe schlüpfrigen Hang hinab. Dort lag sie, mit dem Gesicht auf der Erde, die Finger in den Boden gekrallt, und neben ihr donnerte der Zug vorbei, kreischten die Räder und spritzte Wasser über sie.
Dann war der Zug vorbei, der Regen rann lautlos vom Himmel, und die kahlen Bäume umstanden sie wie ein Heer von Gestorbenen. Sie blieb liegen und weinte in das nasse Gras, rief nach ihrer Mutter und flehte Gott an, ihr Kraft und Mut zu geben, um sterben zu können.
Noch drei Züge fuhren an ihr vorbei … Sie saß neben den Gleisen, klein, elend, wie vom Regen aufgeweicht, und starrte auf die donnernden Stahlräder, die in Augenhöhe an ihr vorbeirollten.
Am Abend war sie wieder in München. In Starnberg hatte sie die Erdflecken auf ihrer Kleidung trocknen lassen und auf der Bahnhofstoilette ausgebürstet. Aber noch immer sah sie wie eine nasse Maus aus, in ihren Augen lag noch die Leere, in die sie sich hatte hineinstürzen wollen. Wie eine Schlafwandlerin ging sie durch die bunterleuchteten Straßen, mechanisch blieb sie an den Ecken stehen, sah nach rechts und links, ob kein Auto kam, und ging weiter, und dabei war es ihr ganz gleichgültig, ob ein Auto sie überfuhr, eine Straßenbahn, ein Omnibus oder ein Lastwagen. Daß sie an den Straßenkreuzungen zögerte, war reiner Instinkt … sie sah nicht die Menschen um sich, die glänzenden Schaufenster der Geschäfte, das abendliche Abenteuer einer Großstadt.
Auf dem Oscar-von-Miller-Ring betrat sie ein neuerbautes großes Haus, fuhr mit dem Fahrstuhl fünf Stockwerke hoch und schellte an einer Tür, an der ›Dr. med. F. Bentrob‹ stand. Erst dann wieder, als die Tür aufschwang und ein grauhaariger Mann sie entgeistert anstarrte, löste sich ihre Starrheit. Sie weinte, breitete die Arme aus, stürzte an die Brust des verblüfften Mannes und schrie: »Hilf mir, Onkel Franz … hilf mir! Ich kann nicht mehr weiter.«
»Wir werden uns das alles genau überlegen«, sagte später Dr. Franz Bentrob, Facharzt für Gynäkologie. Er hatte Julia auf die Couch gelegt, ihr das völlig durchnäßte Zeug ausgezogen und sie in einen Bademantel gewickelt. Jetzt trank sie auf seinen Befehl heißen Rum mit Zucker. »Das hilft gegen eine Erkältung manchmal mehr als alle Pillen«, hatte
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