Schluß mit cool (German Edition)
einem Nichts, das nur Wissenschaftler mit starken Mikroskopen hätten wahrnehmen können, und der Gedanke daran – an das Elternsein, an kleine Menschen, an Babys – erschreckte mich.
Aber was konnte ich tun? Ich liebte Sonia von ganzem Herzen, und ich hatte vor dem Schöpfer und vor Pater Benitez geschworen, für sie zu sorgen, im Guten wie im Schlechten, im Alter wie in der Jugend. Es war meine Pflicht und Schuldigkeit, mich um sie zu kümmern, als sie es nicht mehr selbst tun konnte – manche würden sogar sagen, es sei ein Privileg , und vielleicht war es das auch, doch deshalb fühlte ich mich nicht weniger elend. Denn ihr müßt wissen, daß das Unvermeidliche eingetreten war, und sie war jetzt ein Säugling, meine Sonia war ein Baby, ein quäkender kleiner Schreihals mit Koliken und großen Augen, der gierig an der Flasche saugte und schlaflose Nächte durchweinte, in denen ihm Miniaturtränen der Wut und der Machtlosigkeit über die verschrumpelten roten Wangen rannen.
»Sonia!« schrie ich sie an. »Sonia, wach auf! Ich weiß, daß du da drin bist, ich weiß, daß du mich verstehst – jetzt hör doch bloß mit dem Geflenne auf, hör sofort damit auf!«
Aber natürlich hörte sie nicht auf. Wie konnte sie auch? Sie war ja nur ein Baby, acht Monate alt, sechs Monate, zwei. Ich hielt sie in den Armen, meine Geliebte, meine Sonia, und sah zu, wie sie mir Tag für Tag weiter entwuchs. Ich packte sie an den nackten Füßen wie ein gehäutetes Karnickel, das fertig war für die Pfanne, und legte eine saubere Windel unter sie, nachdem ich ihre Geschlechtsteile saubergewischt hatte, die kleine Spalte, die einst meine Freude und mein Leben gewesen war.
Denkt nicht, daß ich nicht wütend war. O ja, ich kannte die Regeln, wir alle kannten sie, aber es war grausam, allzu grausam, und es brachte mich zum Weinen, sie zu diesem saugenden, klammernden, gierigen kleinen Ding reduziert zu sehen. »Sonia!« rief ich. »Oh, Sonia!« Sie aber starrte mich nur aus ihren haselnußbraunen Augen an, die ebenso kristallklar schimmerten wie ihre Erwachsenenaugen – Augen, die gesehen und erfahren und empfunden haben mußten. Ich magerte ab. Ich konnte nicht schlafen. Mein Boß in der Banco Nacional, ein eminent vernünftiger Mensch, nahm mich beiseite und teilte mir mit klaren Worten mit, es bestehe die Gefahr, daß ich die Stelle verlöre, die ich fast sechzig Jahre lang bekleidet hatte.
Dann, eines Abends, an dem Sonia sich so gründlich und widerwärtig beschmutzt hatte, daß ich keine andere Wahl hatte, als ihr ein Bad einzulassen, klopfte es an der Tür. Ich hielt sie in den Armen, Sonia, meine Sonia, das Wasser in der Wanne war so mild wie ein Lüftchen und erst fünf Zentimeter tief, aber es stieg, es stieg langsam, da sah sie mich mit einem Blick an, der mir mitten in die Seele stach. Es lag ein Flehen darin, ein sehr spezifischer und unendlich trauriger Wunsch, der wie eine Flamme der Tiefe ihrer großen, vorherwissenden Haselnußaugen entsprang...
Es klopfte erneut, lauter und hartnäckiger diesmal, und ich legte sie auf den Rücken in das langsam einlaufende Wasser, dabei sah ich ihr beständig in die Augen, während ihre Beinchen ruckartig ausschlugen und die kleinen Fäuste sich ballten. Dann stand ich auf – nur eine Sekunde lang, nur eine Sekunde –, wischte mir die Hände an der Hose trocken und rief: »Ich komme, ich... komme schon!«
Das Klopfen an der Tür ließ John kurz hochschrecken – gütiger Gott, es war nach ein Uhr morgens, das Feuer war erloschen, und Barb, wo war nur Barb? –, doch er steckte mittendrin in etwas, und er versuchte, seine Besorgnis niederzukämpfen, sie irgendwo einzusperren, in einem Winkel seines Verstandes für späteren Abruf zu speichern. Als es nochmals klopfte, hörte er es gar nicht, nicht bewußt jedenfalls, und Sonia , dachte er, was wird nun aus Sonia werden? , bis Buck hereinkam und die Tür offenstand wie die Mündung einer Höhle, es drang kalt herein, absolut eiskalt, und eine Gestalt mit breitkrempigem Filzhut über einem hageren, gehetzten Gesicht nahm den Türrahmen ein.
»Dad!« sagte Buck. »Dad, es hat einen Unfall gegeben...«
John hörte ihn kaum. Er hielt sich das Buch vors Gesicht wie einen Schutzschild, und bei all dem Tumult, der Verwirrung und den plötzlich so heftigen Bewegungen, die im Zimmer einen Wirbelsturm von Schreien und Klagen losbrechen ließen, zwischen dem hektisch jaulenden Gebell des alten Hundes fand er endlich seine Stimme
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