Schluß mit cool (German Edition)
um Ihre Mitwirkung...«. Und dann murmelte sie wieder ein Gebet, ein weit gewöhnlicheres und profaneres diesmal: Lieber Gott, laß mich bitte nicht wieder neben diesem Idioten sitzen!
Sie sah auf den Abschnitt der Bordkarte – 18B –, zählte die Sitzreihen ab, und auf einmal war sie so müde, daß sie sich wie ausgeblutet fühlte (Anämie, hatte die Ärztin gesagt und die Lippen geschürzt, das war ihr Problem – das und Depressionen). Die Schlange war zum Stillstand gekommen, ihre Mitpassagiere ächzten wie Büßer unter der Last ihrer Taschen, und im Gang vor sich sah sie von ihnen nichts als die Schultern, die Mantelkrägen und die Haare, die ihnen in wahrhaft multiethnischer Vielfalt auf den Köpfen wuchsen. Die Glücklichen – also jene, die schon auf ihren Plätzen saßen – sahen entnervt zu ihr auf, als wäre sie verantwortlich für die Verspätungen, als hätte sie persönlich die Tieffronten über dem Mittelwesten ausgebreitet, den Piloten Lügen in den Mund gelegt und die Vorschriften für Gewichtslimits beim Handgepäck mißachtet. »Okay, okay, jetzt lassen Sie mir mal ’ne Minute Zeit, ja?« brüllte jemand, und durch eine Lücke in der Schlange sah sie ihn, sechs oder sieben Reihen weiter vorn, wo er den Gang blockierte, weil er mit seiner Tasche kämpfte, die er in eines der oberen Gepäckfächer zu stopfen versuchte. Rohe Gewalt, etwas anderes kannte er nicht, weil er ein verwöhnter Querulant und Maulheld war, wie ein zu groß geratener Fünftkläßler. Sie haßte ihn. Jeder im Flugzeug haßte ihn.
Und dann war die Stewardeß da und versicherte ihm, sie werde seine Tasche weiter vorn unterbringen, während eine Lautsprecherstimme das Kommando gab, rasch die Plätze einzunehmen, und die Motoren donnernd zum Leben erwachten. Ellen erhaschte einen Blick in sein Gesicht, ungehobelt und selbstvergessen, als er sich wuchtig in den Sitz fallen ließ, und dann schlurfte die Schlange endlich wieder voran, und sie sah, daß ihr Gebet erhört worden war – sie saß drei Reihen vor ihm. Sie hatte natürlich einen Mittelplatz erwischt, wie die meisten der Passagiere aus der abgesagten Maschine, aber wenigstens war es nicht einer neben ihm. Sie wartete, bis die Frau auf dem Gangsitz (Mitte Fünfzig, ein Gesicht wie Satteltaschen und kupferfarbenes Haar in einem toupierten Dutt) ihren Gurt geöffnet und sich umständlich erhoben hatte, um sie durchzulassen. Am Fenster saß niemand – jedenfalls noch nicht –, und kaum hatte sie sich niedergelassen, Arm an Arm mit der Satteltaschenfrau, spekulierte Ellen auf diesen Platz.
Konnte sie so viel Glück haben? Nein, nein, sicher nicht, und schon schob sich eine weitere Schicht des Aberglaubens aus der trüben Brühe ihres Unterbewußtseins, so als hätte Glück nichts mit ihr zu tun oder mit dem, was sie an diesem Tag bereits durchgemacht hatte, oder in den letzten Wochen, Monaten und Jahren – oder eigentlich überhaupt ihr ganzes beengtes leeres Leben lang. Ein Name lag ihr auf der Zunge, ein Name, den sie – mit Hilfe der von ihrer Ärztin verschriebenen Medikamente – lange zu unterdrücken versucht hatte. Sie ließ ihn eine Zeitlang zu, und ihr Kummer wurde immer größer, bis sie sich wie die Heldin eines rührseligen Films fühlte, die geschändete Nonne, die Witwe des Piloten, mit dunklen Schlehenaugen, unter dem steten Blick der Kamera dahinwelkend. Aber, so sagte sie sich, sie hätte das Bier nicht trinken sollen. Und den Cocktail auch nicht. Nicht zusammen mit den Tabletten.
Im Flugzeug wurde es ruhig. Die Gänge leerten sich. Sie kämpfte die Erschöpfung nieder und fixierte das andere Ende der Maschine, wo der letzte Passagier – ein Junge mit verkehrt herum aufgesetzter Baseballmütze – unter Schwierigkeiten seinen Platz einnahm. Verstohlen, nur mit den Füßen, schob sie ihre Tasche von dem Platz unter ihrem Sitz unter den Fenstersitz, und dann, nach kurzem Abwarten, löste sie ihren Gurt und rutschte auf den freien Platz hinüber. Sie streckte die Beine aus, schob Kopfkissen und Decke zurecht und sah den Flugbegleiterinnen zu, wie sie den Gang abschritten und die Gepäckklappen zudrückten. Sie dachte daran, daß sie ihre Mutter hätte anrufen sollen, um ihr die neuen Fluginformationen durchzugeben – sie würde sie von Chicago aus anrufen, genau, das würde sie tun –, als sich vorn in der Kabine noch einmal etwas regte und ein allerletzter Passagier durch die Luke trat, neben der die Crew schon bereitstand, um sie zu verriegeln.
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