Schluß mit cool (German Edition)
wäre eine Bombe hochgegangen. Niemand regte sich. Erst nach zwei weiteren Meckertönen sagte Denise: »Ich frage mich, wer das um diese Zeit sein kann«, und Philip, mein Bruder mit dem zurückweichenden Haaransatz und der übergroßen Brille und der eigenen, nach ihm benannten Klinik am Rand von Detroit, sagte: »Laß doch, hör einfach nicht hin, das ist niemand.«
Und es war seltsam, denn wir saßen dann schweigend da und hörten das Telefon immer wieder läuten – noch zwanzigmal, mindestens zwanzigmal –, bis derjenige am anderen Ende endlich aufgab. Eine weitere Minute verrann stumm, die Stille heulte in unseren Ohren, bis Philip aufstand, auf die Uhr sah und sagte: »Was meint ihr – Zeit zum Ins-Bett-Gehen?«
Ich war nicht dumm, jedenfalls nicht besonders – nicht dümmer als irgendwer sonst –, und ich war auch kein Verbrecher. Ich war eben nur in eine Art zähe Masse aus Hoffnungslosigkeit geraten, nachdem ich die Schule hingeschmissen hatte, wegen einer Rockband, in die ich damals mein ganzes Ich investierte – einer Band, die sich innerhalb eines Jahres auflöste, und so fügte sich eins zum anderen. Jobs kamen und gingen. Ich hing viel auf dem Sofa rum, zappte mich durch die Sender und blätterte in Büchern, die mir mal was bedeutet hatten. Ich fand Freundinnen und verlor sie wieder. Und ich lernte, daß Koks durch die Nase zu sniffen etwas für Dilettanten war und eine extravagante Verschwendung. Ich fing an, das Zeug zu rauchen, zwei bis drei Abende die Woche, dann wurden es fünf bis sechs Abende die Woche, und dann war es jeden Tag, den ganzen Tag lang, und wieso auch nicht? So fühlte ich mich damals. Klar doch. Und jetzt war ich in Michigan und versuchte einen Neuanfang.
Jedenfalls brauchte man sowieso kein Genie zu sein, um zu kapieren, warum mein Bruder und seine Frau dieses Telefon hatten läuten lassen – nicht nachdem Philip und ich am nächsten Morgen um 7.45 Uhr auf den Parkplatz hinter der Klinik einbogen. Ich war im Grunde noch nicht richtig wach – es war Viertel vor fünf Westküstenzeit, so früh, daß ich schon Kopfschmerzen bekam, wenn ich nur dran dachte, ganz zu schweigen davon, tatsächlich schon aufgestanden zu sein. Hinter den beschlagenen Scheiben wirkte alles düster, in der Luft hing eine Art gefrorener Nebel in der Farbe von Zitroneneis. Und die Bäume hatten, wie ich sah, über Nacht keine Blätter hervorgebracht. Jeder Rinnstein war eine erstarrte Müllkippe.
Philip und ich unterhielten uns ein wenig auf dem Weg in die Stadt – nur sehr wenig, aus Rücksicht auf meinen Zustand. Denise hatte mir Kaffee gemacht, denn viel mehr brachte ich um diese Zeit nicht hinunter, aber Philip aß eine Riesenschüssel mit Kleieflocken und Sonnenblumenkernen mit fettarmer Milch, und die beiden Jungs, die zu mir plötzlich wieder schüchtern waren, löffelten stumm ihre Cornflakes und Frosties. Ich tauchte aus meinem Tran auf, sobald die Reifen die betonierte Auffahrt berührten, die die öffentliche Fahrbahn der Straße vom Privatgrund des Parkplatzes trennte: da standen Leute, jede Menge Leute, eine ganze Schattenarmee aus Schultern und Mützen und gedunsenen Gesichtern, und sie rannten schreiend auf uns zu. Anfangs wußte ich gar nicht, was los war – ich dachte erst, ich wäre in einem Horrorfilm gelandet, so in der Art von Die Nacht der lebenden Toten oder Zombies unter Kannibalen . Ihre Mienen bellten uns an, gebleckte Zähne, Augen tief in die Höhlen gesunken, heißer Atem, der ihnen wie Dampf aus den Kehlen stieg. »Killer!« brüllten sie. »Nazis! Babymörder!«
Der Wagen arbeitete sich zentimeterweise über den Gehsteig und auf den Parkplatz, schob sich durch die Menschenmenge, als wären wir auf einer schmalen Schneise in einem dichten Wald, und Philip warf mir einen Blick zu, der alles erklärte: von seinen Falten über das Übergewicht von Denise bis zum Telefon, das mitten in der Nacht losging, wie oft sie auch die Nummer änderten. Hier herrschte Krieg. Ich kletterte mit rasendem Herzschlag aus dem Wagen, und während die Luft mich wie ein kaltes Messer traf, blickte ich dorthin zurück, wo sie am Tor versammelt standen, eine geballte Masse von Durchschnittsmenschen, wie man sie überall sah. Sie sangen jetzt. Irgendeinen Choral, ein selbstgerechtes, jesusdusliges Kirchenlied, das unerbittlich durch den Verkehrslärm und die tiefgefrorene Luft gellte. Mir fehlte die Zeit, das alles in mich aufzunehmen, doch ich spürte, wie ein leises Brennen von Zorn und
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