Schluß mit cool (German Edition)
Gewahrsam genommen werden würde, sobald man sie aus dem Krankenhaus entließ.
Lange Zeit sagte niemand etwas – alles war gesagt worden, wieder und wieder, eine gewaltige Flut aus Schmerz und gegenseitigen Vorwürfen –, und die antiseptische Stille der Klinik hielt sie gepackt, während der Regen gegen die Fenster prasselte und die Monitore am Fuß des Bettes Zahlen auswarfen. Vom Ende des Korridors hörte man den Dialogfetzen einer Fernsehserie, und einen Moment lang öffnete China die Augen und glaubte sich wieder im Studentenheim. »Liebes«, sagte ihre Mutter und ließ ihr Fegefeuergesicht über ihr aufragen, »geht es dir gut? Kann ich irgend etwas für dich tun?«
»Ich muß – ich glaube, ich muß pinkeln.«
»Wieso?« wollte ihr Vater wissen, und darauf gab es nun wirklich keine Antwort. Er war von seinem Stuhl aufgestanden, baute sich vor ihr auf, Augäpfel wie rissiges Porzellan. »Wieso hast du es uns nicht gesagt, wenigstens deiner Mutter – oder Dr. Fredman? Wenigstens Dr. Fredman hättest du es sagen sollen. Er war immer – er ist wie ein Mitglied der Familie, das weißt du, und er wäre, er hätte... Was hast du dir nur dabei gedacht , zum Donnerwetter?«
Gedacht? Sie hatte gar nichts gedacht, weder damals noch jetzt. Sie wollte nur eins – und es war ihr egal, was sie mit ihr anstellten: ob sie sie schlugen, folterten, weinend durch die Straßen zerrten in einem schmutzigen weißen Kleid, auf dem vorn das Wort »Babymörderin« in scharlachroten Buchstaben aufgestickt war –, sie wollte Jeremy sehen. Denn wirklich wichtig war ihr nur, wie er darüber dachte.
Das Essen in der Sarah-Barnes-Cooper-Besserungsanstalt für Frauen war nicht viel anders als das, was man in der Mensa im College aufgetischt bekam: vor allem Zucker, Stärke und schlechtes Cholesterin, und das hätte ihr durchaus als Ironie des Schicksals erscheinen können, wäre sie aus anderen Gründen dort gewesen – etwa wegen eines Interviews im kommunalen Umfeld oder für Recherchen zu ihrer Diplomarbeit in Soziologie. Aber da sie jetzt über einen Monat lang eingesperrt war und den anderen Frauen eine Zielscheibe für Drohungen, Spötteleien und schlichte Gemeinheiten bot – immerhin war ihr Leben hoffnungslos ruiniert, und jede Zeitung des Landes hatte ihr eingefallenes bleiches Gesicht auf der Titelseite gehabt, darunter die gellende Überschrift MOTELMOM –, konnte sie mit Ironie wenig anfangen. Sie hatte Tag für Tag vierundzwanzig Stunden lang Angst. Angst vor der Gegenwart, Angst vor der Zukunft, vor den Reportern, die alle nur darauf warteten, daß der Richter eine Kaution aussprach, damit sie über sie herfallen konnten, sobald sie zur Tür hinaustrat. Sie konnte sich nicht auf die Bücher und Zeitschriften konzentrieren, die ihre Mutter ihr mitbrachte, nicht einmal auf den Fernseher im Freizeitraum. Sie saß einfach in ihrem Zimmer – es war ein Zimmer genau wie im Studentenheim, nur daß sie einen über Nacht darin einsperrten – und starrte an die Wand, dabei aß sie Erdnüsse, Schokoplätzchen und handvollweise Sonnenblumenkerne und kaute aus schierer tierischer Lust darauf herum. Sie legte noch ein paar Kilos mehr zu, aber was machte das jetzt noch aus?
Bei Jeremy war es anders. Er hatte alles verloren – seinen lässigen Gang, sein Lächeln, die Muskulatur in den Oberarmen und im Schultergürtel. Sogar das Haar lag ihm jetzt flach am Kopf an, als wäre ihm ein bißchen Gel und das Kämmen schon zuviel. Als sie ihn bei der Anklageerhebung sah, ihn zum erstenmal wiedersah, seit sie aus dem Wagen gestiegen und mit blutüberströmten Beinen ins Studentenheim gewankt war, da wirkte er wie ein Flüchtling, wie ein Gespenst. Der Raum, in dem sie waren – der Gerichtssaal –, schien sich wie durch Zauber um sie herum aufgetan zu haben, samt Wänden, Fenstern, Bänken, Lampen und Heizkörpern, dazu der Richter, die amerikanische Flagge und ein vorgefertigtes Publikum. Es war heiß. Die Leute husteten in ihre Fäuste und konnten die Füße nicht stillhalten, alle Geräusche waren wie verstärkt. Der Richter saß oben, seine Arme in der Robe sahen aus wie verdrehte Knochen in einem Sack, sein Blick war prüfend und unzugänglich, als er über die Lesebrille hinweg herunterspähte.
Chinas Rechtsanwalt mochte Jeremys Rechtsanwältin nicht, das stand fest, und der Staatsanwalt mochte überhaupt niemanden. China beobachtete ihn – Jeremy, nur ihn –, als die Reporter unisono die Luft anhielten, während der
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