Schluss mit dem ewigen Aufschieben
und dieses System sei durch Vorsatzbildung
nicht beeinflussbar. So erklärte sich Helmut die Tatsache, dass er sich immer wieder vorgenommen hatte, seine Stapel abzutragen,
es dann aber doch nicht tat. »Steht ja schließlich schon in der Bibel: Der Geist ist willig, aber das Fleisch ist schwach!«,
stellte er befriedigt fest. »Ich wollte wirklich, aber es hat nicht sollen sein, mein limbisches System wollte nicht!«
Für Menschen mit Aufschiebeproblemen ist das Auseinanderfallen von Vorsatzbildung und Ausführung charakteristisch. Die größten
Schwierigkeiten bestehen für sie darin, ihre Absichten über die Ebene der reinen Planung hinaus zu bringen und zu einer Selbstbindung
zu kommen, sich also selbst das verbindliche Versprechen zu geben, die Handlung auch wirklich auszuführen. Wie Proust, so
erklären auch diese Menschen ihr Problem mit »Willensschwäche«:
|261| »Was meine Mutter zur Verzweiflung brachte, war meine Willensschwäche. Ich tat alles aus dem Antrieb des Augenblicks heraus.
Solange dieser vom Geist oder vom Herzen kam, war mein Leben, ohne ganz gut zu sein, doch auch nicht eigentlich schlecht.
Die Verwirklichung all dieser schönen Pläne, Arbeit, Gemütsruhe, Vernunft, beschäftigte uns, meine Mutter und mich, über alles;
denn wir spürten, sie deutlicher, ich verworrener, aber doch sehr kraftvoll, dass sie nichts anderes sein würde als das in
mein Leben projizierte Bild von der Erschaffung durch mich selbst und in mir selbst jenes Willens, wie sie ihn sich vorgestellt
und ausgemalt hatte. Aber ich verschob sie immer auf morgen. Ich ließ mir Zeit, manchmal war ich verzweifelt zu sehen, dass
sie vergeht, aber ich hatte noch so viel vor mir! Indessen ängstigte ich mich doch ein wenig und spürte dunkel, dass die Gewohnheit,
auf das Wollen zu verzichten, um so mehr auf mir zu lasten begann, je länger sie sich durch die Jahre dahin zog, denn ich
hatte die düstere Ahnung, dass die Dinge sich nicht mit einem Schlage ändern würden und dass ich, um mein Leben umzugestalten
und meinen Willen zu erschaffen, kaum mit einem Wunder rechnen könne, dass mich keine Mühe gekostet hätte. Zu wünschen, einen
Willen zu besitzen, genügte nicht. Es hätte dazu genau das gebraucht, was ich ohne Willen nicht konnte: es zu wollen.« (Proust,
1997)
Marcel Proust hat den Mangel an Willenskraft sogar als das größte aller Laster bezeichnet. Der für uns interessante Aspekt
liegt jedoch in seiner Idee von der »Erschaffung« des Willens, einer Auffassung, die mehr Spielraum zulässt als der Determinismus,
an den Helmut so gerne glauben möchte. Wenn man seinen Willen erschaffen kann, ist man besser dran, als wenn man annimmt,
man habe von Geburt an eben nur eine bestimmte Portion von Charakterstärke.
Zur Beantwortung der Frage, wie man seinen vielleicht bislang noch unterentwickelten Willen stärken kann, hat die moderne
Hirnforschung etwas anzubieten. Sie zeigt nämlich, dass komplexe Handlungen durch das Zusammenspiel von verschiedenen Gehirnteilen
zustande kommen. Da ist zum einen das Stirnhirn, das wir bewusst und gezielt gedanklich ansprechen können, indem wir Absichten
und Pläne formulieren. Zum anderen sind tiefer gelegene Teile unseres Gehirns im Spiel (das limbische System). Sie sind unbewusst
an der Steuerung und Ausführung von Willenshandlungen beteiligt, indem sie unsere geplanten Handlungsprogramme mit Energie
versehen. Diese Regionen können wir nicht direkt mit Gedanken beeinflussen, sondern nur, indem wir Gewohnheiten ausbilden,
also dafür sorgen, dass Handlungsprogramme durch Übung leicht zugänglich und ausführbar |262| werden. Neue Programme haben es dabei schwerer als alte, die bereits gut gebahnt sind. Um neue Gewohnheiten »limbisch« werden
zu lassen, müssen wir sie eine Zeit lang sehr intensiv einüben, damit sie später ebenso automatisch ablaufen wie alte.
Bei der Stärkung unseres Willens brauchen wir also beides: die Bildung von Vorsätzen und die Ausbildung von Gewohnheiten zur
Mobilisierung von Energien, um diese Entschlüsse umzusetzen. Nur gute Vorsätze zu fassen bedeutet noch lange nicht, etwas
auch wirklich zu wollen. Die Verkündung einer Intention (»Ich will ein Buch schreiben!«) ist zunächst einmal nichts weiter
als eine Stirnhirnaktivität. Erst wenn den Vorsätzen auch die entsprechenden Handlungen folgen merkt man, dass man eine Sache
wirklich will. Menschen mit
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