Schluss mit dem ewigen Aufschieben
kennt er nicht, und Unbekanntes mag er nicht. Über
seine Veränderungswünsche hat Helmut immer wieder mit seiner Frau und seinem besten Freund gesprochen, die ihm zurieten. Aber
der Schritt heraus aus seiner Abteilung, wo er nun schon seit zehn Jahren ist, erscheint ihm als ein zu großes Risiko.
Anja liegt im Wohnzimmer auf der Couch und schluchzt. Ihre beste Freundin Jutta ist gerade eingetroffen und tröstet sie. Anja
kann einfach nicht mehr. Von morgens bis abends ist sie auf den Beinen und sorgt für Alexander, den Vierjährigen, und die
zweijährige Steffi. Diese verdammte Routine, immer dasselbe: aufstehen, Kinder fertig machen, um neun in den Kindergarten
bringen, nach Hause, aufräumen, einkaufen, wieder nach Hause, Einkäufe einsortieren, Wäsche waschen, Staub saugen, Badezimmer
putzen, überhaupt das ewige Saubermachen. Und Horst, ihr Mann, weigert sich einfach, eine Putzfrau einzustellen. Wie fies
er neulich erst sagte: »Was willst du denn dann den ganzen Tag lang machen?« Anja hat oft so eine Wut. Horst hält sich fein
raus, verschanzt sich hinter seiner Rechtsanwaltskanzlei, seinen Mandanten und seinen Terminen. »Sei doch froh, dass du nicht
arbeiten musst!«, hat er neulich tatsächlich gesagt. Typische Männersprüche! Dabei hat sie so viele Ideen! Sie könnte groß
rauskommen, wenn sie nur wollte. Sie müsste endlich eine Mappe mit ihren Fotos und Zeichnungen zusammenstellen, um sich für
das Studium an der Kunsthochschule zu bewerben. Oder sich bei der Modelagentur melden, deren Anzeige sie vor einiger Zeit
aus der Zeitung ausgeschnitten hatte. Mit ihrer Figur könnte sie den Supermodels Paroli bieten! Anja wäre auch gerne Besitzerin
einer chicen Modeboutique. Stattdessen muss sie sich von morgens bis abends um die Familie kümmern!
Jutta kennt Anjas Klagen, die sie seit der Geburt der Kinder vorbringt, bis zum Überdruss. Nichts hat sich seitdem verändert.
Wie oft hat sie ihrer Freundin schon vorgeschlagen, wieder in ihrem Beruf zu arbeiten, wenigstens stundenweise. Als Apothekenhelferin
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wäre das möglich, und ihre ehemalige Chefin habe ihr das doch sogar schon angeboten. Von dem Geld könnte sie dann selbst eine
Putzfrau bezahlen und in ihrer Freizeit an ihren Fotos oder Zeichnungen für die Bewerbungsmappe arbeiten. Aber Anja findet
immer Argumente, warum das nicht infrage kommt: Horst würde das nie erlauben, dann gäbe es jeden Tag Ärger, die Beziehung
würde sich noch weiter verschlechtern. Und außerdem sei sie über die Apotheke hinausgewachsen, sie würde jetzt lieber kreativ
arbeiten. Horst würde sie dieser Pläne wegen auslachen, überhaupt sei er ein richtiger Spießer. Anja rastet förmlich aus vor
Wut, wenn sie nur an ihn denkt. Für ihn ist es selbstverständlich, dass sie die Partys für seine blöden Geschäftsfreunde ausrichtet.
Und wie er sich aufführt, wenn was schief geht, wie neulich, als sie die Einladungskarten zu spät abgeschickt hatte.
Jutta hat angeregt, dass beide einmal zu einer Paarberatung gehen, aber auch das lehnt Anja ab: Das würde Horst nicht mitmachen.
Seit einiger Zeit nimmt sie Tabletten, um dem Stress gewachsen zu sein und ihm zu zeigen, wie fertig das alles sie macht.
Jutta hat ihr besorgt geraten, doch lieber autogenes Training zu lernen, aber Anja hat gekontert: Solche Kurse gäbe es nur
abends, und da könne sie nicht weggehen, das wäre Horst nicht recht und die Kinder seien noch so klein und bräuchten sie.
»Ja«, sagt Anja auf Juttas Vorhaltungen, »du hast ja Recht, ich müsste wirklich mal mit Horst reden und meine Träume endlich
realisieren, aber jetzt hat er gerade so viel um die Ohren, da kann ich ihn nicht auch noch damit belasten.«
In der Art, wie Beate, Helmut und Anja aufschieben, finden sich viele Ähnlichkeiten: Alle drei verbringen zu viel Zeit um
die eigentlichen Aufgaben herum, anstatt sie direkt anzugehen. Sie haben sich unzählige Male vorgenommen, nicht mehr aufzuschieben,
aber es scheint, als zwinge eine innere Kraft sie dazu, ihre Vorhaben zu verschieben oder gänzlich zu meiden, auch wenn sie
wissen, dass unangenehme Folgen drohen. Weil sie immer wieder aufschieben, leiden sie an Selbstzweifeln: Werden sie es jemals
schaffen, sich zu ändern? Sie suchen noch nach Ausreden, Entschuldigungen und Rechtfertigungen und verschleiern damit die
Erkenntnis, dass sie ein Aufschiebeproblem haben. Gleichzeitig kreisen sie besessen darum, was sie eigentlich
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