Schluss mit dem ewigen Aufschieben
in unsere Kompetenzen zu erwerben, waren wir ganz besonders auf glaubwürdige positive Rückmeldungen über unsere
Leistung angewiesen. Schmeicheleien halfen uns nicht und destruktive Kritik noch weniger.
Ganz allgemein lässt sich über die Einflüsse der Kindheit auf das Aufschieben Folgendes sagen:
Chaotische Familien leben undisziplinierte Haltungen vor, mit denen Kinder sich identifizieren oder gegen die sie sich ein
starres Ordnungskorsett zulegen. Beides begünstigt das Aufschieben.
Überstrenge Familien, in denen Kadavergehorsam gefragt ist, verlangen von Kindern die totale Unterordnung unter einen fremden
Willen. Später trauen diese Kinder ihrem Urteil nicht, wissen nicht, was sie wirklich wollen und haben keine Ahnung, wie sie
das jemals herausfinden können.
|140| Verwöhnende Familien, die jeden kleinen Schritt mit Lob und übergroßem Jubel quittieren, schaffen unrealistische Standards
und erzeugen absurde Erwartungen an äußeren Zuspruch. Bleibt der aus, erleben Kinder das als Versagung. Da sie nicht lernen
mussten, sich durchzubeißen, schieben sie Schritte auf, die eine gewisse Härte gegen sich und andere erfordern.
Familien, in denen auf Verweigerung hin (»Ich will nicht«) inkonsistentes Verhalten der Erzieher erfolgt (einmal ignorieren,
dann wieder strafen oder sogar belohnen), fixieren Kinder auf das Austesten der Grenzen, also auf das Aufschieben.
Der Mythos der Sofortbefriedigung, auch durch das Fernsehen genährt, schafft falsche Erwartungen. Statt die unweigerlichen
Frustrationen beim Spiel in der Gruppe ertragen zu lernen, kann ein Kind sich an sein Video- und Computerspiel zurückziehen
und damit die Lösung wichtiger sozialer Aufgaben aufschieben.
Kinder mit Lernschwierigkeiten vermeiden die unausweichlichen Enttäuschungen, indem sie aufschieben.
Dabei sind die Zusammenhänge nicht immer linear und einfach. Aus einer Familie von fröhlichen Chaoten kann durchaus ein disziplinierter
sorgfältiger Arbeiter hervorgehen – und umgekehrt. Der Schlüssel zum Verständnis liegt in der Entwicklung unserer Persönlichkeitsstruktur
und der Herausbildung unseres Ichs als der Instanz, die zwischen inneren Antrieben wie Wünschen oder Gewissensforderungen
und den Ansprüchen der Außenwelt vermittelt. Sie sind auf das Engste verbunden mit unseren zwischenmenschlichen Erfahrungen.
Diese sind umgeben und geprägt von gesellschaftlichen Bedingungen und Werten, die – über Verhalten und Sprache vermittelt
– unsere Umgangsformen miteinander und unseren Umgang mit uns selbst weitgehend festlegen. Doch trotz aller Determiniertheit
bleibt in dem Maße, wie unsere Reifung voranschreitet und wir zu eigenem Denken, Fühlen und Handeln fähig werden, ein nicht
festgelegter Bereich, der uns zur Verfügung steht, um uns autonom zu gestalten, nach Vorstellungen und Ideen, die ganz allein
aus uns selbst stammen.
Unsere Persönlichkeitsentwicklung wird vorangetrieben und gekennzeichnet durch verschiedene Konflikte, für die Lösungen gefunden
werden müssen. Diese Konflikte spielen sich in der Regel zwischen uns und unseren Eltern ab. Später im Leben können wir an
eben denselben |141| verinnerlichten Konflikten leiden und sie mit den Menschen, die jetzt für uns wichtig sind, wieder in Szene setzen.
In der frühesten Kindheit geht es um die Herausbildung von Urvertrauen oder Misstrauen der Umwelt, aber auch sich selbst gegenüber,
und um die Entwicklung des Selbstwertgefühls. In der Phase der Reinlichkeitserziehung stehen die allmählich erwachende Autonomie
und die Fähigkeit, sich und die Umgebung zu kontrollieren, im Vordergrund. Hier kann sich ein Gefühl der Stärke entwickeln,
aber auch eine schamerfüllte Einstellung zu sich selbst, gepaart mit dem Gefühl der Machtlosigkeit. Die Konflikte der nächsten
Phase betreffen die zunehmende Loslösung von den Eltern, die Ausübung der Fähigkeit, den eigenen Weg zu gehen oder schuldgefühlhaft
davor zurückzuschrecken. Das Schulkind muss Initiative in Form von Fleiß und Lerneifer entwickeln oder es wird von Minderwertigkeitsgefühlen
geplagt. In der Pubertät geht es darum, das erneut labilisierte Gefühl der eigenen Identität zu festigen, sich als Einheit
zu erleben und sich der Umwelt gegenüber auch so darzustellen.
Im Durchlaufen dieser Konflikte prägen sich Handlungs- und Erlebensmuster heraus, die als Standardreaktionen auf bestimmte
wiederkehrende Konfliktsituationen gespeichert werden.
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