Schluss mit dem ewigen Aufschieben
Ihre Gesamtheit bildet Ihr »Betriebssystem«, das üblicherweise als
Charakter oder Persönlichkeit bezeichnet wird. Bei einem Computer ist dieses System erforderlich, um die einzelnen Anwendungsprogramme,
wie zum Beispiel eine Textverarbeitung, ablaufen zu lassen. In Ihrem Verhalten ist es nicht anders: Komplexe Anwendungen,
wie das Fassen von Entschlüssen oder das Planen und Durchführen von Vorhaben, erfordern ein funktionsfähiges Betriebssystem,
sprich: Persönlichkeitsmerkmale und Reaktionsweisen, die es Ihnen erlauben, möglichst flexibel auf die verschiedenen Anforderungssituationen
zu antworten. Je enger und einseitiger Ihre Persönlichkeitszüge sind, je spezifischer Ihre Reaktionsweisen, desto eher kann
es zu Problemen kommen. Schließlich sind Sie von einer speziellen Umwelt geprägt worden und haben sich in der Anpassung an
diese entwickelt. In ihr kennen Sie sich aus. Was aber ist, wenn Sie in neue Umgebungen geraten, die sich von Ihrer Herkunftsfamilie
sehr unterscheiden können? Wenn in ihr eine gewisse Offenheit herrschte, konnten Sie viele Reaktionsweisen ausprobieren, die
es Ihnen erlaubten, kreative Lösungen für ganz neue Situationen zu finden, ohne dabei von Stress überrollt zu werden. Andernfalls
stehen Sie bei neuen Herausforderungen |142| ohne Strategien da, um Motivation zu erzeugen, Emotionen zu steuern und Stress abzubauen. Wenn Sie das nicht können, kommt
es zum Aufschieben.
Was nun Anja, Beate und Helmut anbelangt, so sind auch sie im Hinblick auf das Aufschieben durch ihre Kindheit geprägt, auch
wenn sie aus ganz unterschiedlichen Familien kommen:
Beate ist Einzelkind. Ihre Eltern haben nicht studiert. Wenn nicht nach der Grundschulzeit die Lehrerin eingegriffen hätte,
wäre Beate zur Realschule gekommen. Traditionell gingen Kinder aus wohlhabenden Akademikerfamilien auf das Gymnasium, an dem
Beate die Aufnahmeprüfung glänzend bestand. Ihre Eltern waren stolz, fürchteten sich aber auch vor dem, was mit dieser klugen
Tochter auf sie zukommen würde: Kontakte zu studierten Menschen und einem Milieu, das sie nicht aus eigener Anschauung kannten.
Eines machte Beates Vater von vornherein klar: Ein Sitzenbleiben hätte die Umschulung auf die Realschule zur Folge. Beate
hatte in den ersten Jahren immer gute Zensuren. Erst in der Pubertät bekam sie Lernschwierigkeiten und sackte in ihren Leistungen
ab. Als ein blauer Brief kam, erneuerte ihr Vater seine Drohung: keine Versetzung, kein Verbleib auf dem Gymnasium. Auch Nachhilfeunterricht
käme nicht infrage. Beate habe auf die höhere Schule gewollt, nun müsse sie das auch allein durchziehen. Beate spürte die
Ambivalenz ihrer Eltern, die noch stärker wurde, als sie häufiger Themen aus Literatur und Politik anschnitt, bei denen die
Eltern nicht mithalten konnten. Beate entfremdete sich ihrer Familie. Ungern brachte sie Freunde und Freundinnen, die aus
reichen Elternhäusern kamen, mit zu sich nach Hause, denn sie schämte sich für die kleine Mietwohnung der Eltern, für deren
beschränkten Horizont und ihr wenig weltläufiges Verhalten. Andererseits fühlte sie sich als Gast bei den anderen oft ebenfalls
unbehaglich. Beate saß zwischen allen Stühlen. Ihr Weg aus der Klemme bestand darin, alles doppelt so gut machen zu wollen
wie die anderen. Mit einer Freundin teilte sie das Idealbild einer asketischen, strengen Intellektuellen, die eisern arbeitet,
perfekte Ergebnisse liefert und sich gleichzeitig sozial engagiert. Simone de Beauvoir wurde ihr Vorbild, dem sie nacheiferte.
Ihre schulischen Leistungen stabilisierten sich, ihre inneren Konflikte allerdings auch.
Helmut stammt aus einer pietistischen Pfarrersfamilie. Sein Vater regierte Familie und Gemeinde wie ein alttestamentarischer
Patriarch.
|143|
Helmuts Mutter setzte ihre Mission, den Kindern ein beispielhaftes Verhalten beizubringen, mit Konsequenz um. Spaß, Freude
und Vergnügen galten in der Familie als verdächtige Verirrungen; Vorbildhaftigkeit, Pflichtbewusstsein und ein gottgefälliges
Dasein waren die bestimmenden Werte. Helmuts sieben Jahre älterer Bruder war der Star der Familie, der in Vaters Fußstapfen
trat und ebenfalls Pfarrer wurde. Die fünf Jahre ältere Schwester wurde Ärztin. Helmut war als Nachzügler einerseits der Liebling
seiner Mutter, andererseits erzog sie ihn besonders streng, da er im Vergleich zu den Geschwistern immer verspielter und weniger
tüchtig war. Seine
Weitere Kostenlose Bücher