Schluss mit dem ewigen Aufschieben
Schulzeit hindurch hörte er die Frage: »Wieso bist du nicht so gut wie deine Geschwister?« Als Helmut zehn
Jahre alt war, erkrankte seine Mutter an einer schweren Depression. Helmut hatte nie den Mut, offen gegen seinen Vater aufzubegehren.
Eine Art stille Rebellion zeigte sich darin, dass er zur Enttäuschung seines Vaters nach dem Abitur nicht studierte, sondern
eine Ausbildung als Versicherungskaufmann machte.
Anjas Vater ist ein sehr erfolgreicher Architekt. Nachdem Anja als zweites Kind, drei Jahre nach ihrer Schwester, geboren
wurde, gab Anjas Mutter ihr Architekturstudium auf. Anja hatte später immer den Eindruck, als sei sie an der Entscheidung
ihrer Mutter schuld gewesen, woran auch die Geburt einer weiteren Schwester, zwei Jahre später, nichts änderte. Anjas Vater
war aus beruflichen Gründen nur selten zu Hause. Wenn er kam, dann stets mit einem großen Auftritt, die Arme voller Geschenke
und Überraschungen, in bester Laune. Er war mitreißend und vergötterte Anja als sein Lieblingskind. Zu ihrem 15. Geburtstag
mietete er ein Bierzelt und gab zu ihren Ehren ein rauschendes Fest, auf dem er den ganzen Abend lang mit ihr tanzte. Ihre
Mutter erschien Anja als zunehmend verbitterte Frau, die nicht das Format gehabt hatte, bei der glänzenden Karriere ihres
Mannes mitzuhalten. Sie, auf der die ganze Kindererziehung lastete, fühlte sich unentwegt überfordert und schaffte es nicht,
eine gewisse Routine in den Alltag zu bringen. Oft gingen die Kinder morgens ohne Frühstück, aber mit jeweils zehn Euro in
der Tasche aus dem Haus, um sich auf dem Schulweg irgendwo etwas zu essen zu kaufen.
Die Beispiele zeigen, wie verschieden die Herkunftsfamilien von Menschen mit ähnlichen Problemen sein können. Unsere frühen
familiären Erfahrungen schaffen einen günstigen Nährboden für die |144| Entwicklung von Kompetenz – oder bilden die Grundlage für die Gewohnheit des Zauderns und Aufschiebens. Im Folgenden können
Sie sich über einige typische Entwicklungsverläufe und -ergebnisse informieren, die das Aufschieben begünstigen. Anschließend
können Sie einen Blick werfen auf gesellschaftliche Faktoren, die ebenfalls mit Zaudern, Zagen und Zweifeln in Verbindung
stehen.
Frühe Kindheit
Zwar ist die Familie, in die wir hineingeboren werden, jeweils einzigartig, aber dennoch sind wir alle mit gleichartigen entwicklungsbedingten
Konflikten konfrontiert, für die es einige typische Lösungsmuster gibt. Unser Leben beginnt als Zwei-Einheit im Uterus unserer
Mutter und setzt sich anschließend noch im ganzen ersten Lebensjahr in Form einer symbiotischen Abhängigkeit zu und mit ihr
fort. Im Unterschied zu früheren Auffassungen, die im Säugling ein narzisstisch um sich kreisendes Wesen sahen, wissen wir
heute, dass wir bereits in den frühesten Stadien unseres Lebens auf andere bezogen sind. Wir müssen dabei von Anfang an
die Welt entdecken und zu ihr Kontakt halten;
unseren Erregungspegel regulieren, das heißt uns vor Reizüberflutung, aber auch vor Reizarmut schützen;
unsere sich herausbildende innere Struktur, unser Ich aufbauen und vor Zerfall bewahren.
Verschmelzung und Abgrenzung
Erleichternd dafür ist eine Umgebung, die durch Reize, welche Interesse und Neugier wecken, in angemessener Weise die Entwicklung
anregt. Andererseits sollte aber auch das Bedürfnis nach Schlaf, Ruhe und Alleinsein respektiert werden. Wurden Sie ständig
überflutet mit lauten, chaotisch auf Sie einstürzenden äußeren Stimuli, die Ihrem eigenen inneren Rhythmus von Aktivität und
Schlaf nicht angepasst waren, dann mussten Sie sich aus Selbstschutz von der Welt zurückziehen. So kann sich eine Haltung
entwickelt haben, bei der Sie auch |145| später, in vielleicht ruhigeren und günstigeren Situationen, Aktivität und Zugriff auf die Welt vermeiden müssen, um sich
vor der verinnerlichten Gefahr der Reizüberflutung zu schützen und nicht den Zusammenhalt Ihres Ichs zu verlieren. Das Urvertrauen
darin, dass die Welt in dem Ihnen überschaubaren Ausschnitt grundsätzlich zu bewältigen ist und dass Sie selbst auch die Fähigkeit
haben, sie und sich auszuhalten, bildet eine tragfähige Grundlage für Ihr Leben. Ist dieses Fundament gestört, dann können
sich später in scheinbar harmlosen Anforderungssituationen Gefühle einstellen, die an das frühe Überflutetwerden mit unbeherrschbarer
Erregung oder an eine unangenehme Leere erinnern. Solche Situationen
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