Schluss mit dem ewigen Aufschieben
zu meiden, kann ein wirkungsvolles Motiv für das Aufschieben
darstellen.
Als Erwachsener erleben Sie dann beispielsweise eine massive quälende innere Unruhe, wenn Sie sich an die Erledigung einer
Arbeit gemacht haben. Sie fühlt sich so überwältigend an, dass Sie ihr um jeden Preis entgehen wollen. Sie können vor allem
dann in solche Zustände geraten, wenn Ihr Vorhaben monoton ist, also reizarm, oder unter chaotischen Umständen geleistet werden
soll, also mit einem Übermaß an Reizung einhergeht. Sie werden auch häufiger Gefühle einer überwältigenden Ohnmacht erleben,
als seien Sie passiv den auf Sie einprasselnden Stimuli aus der Außenwelt, aber auch Ihren Gedanken und Gefühlen ausgesetzt.
Ihr grundlegendes Selbstwertgefühl kann durch frühe Störungen der Einfühlung ebenfalls beeinträchtigt sein. Wenn Sie mit Ihrer
Existenz keine vor Mutterglück strahlenden Augen verbinden können, nicht das Gefühl, dass Sie Wert haben, weil Sie Glück hervorrufen
und empfangen konnten, dann kann es Ihnen später an einer bejahenden Haltung zu sich und der Welt fehlen. Glücklicherweise
hat das Aufschieben nur selten so frühe Ursprünge.
Versorgen und Versorgtwerden
Die nachfolgende orale Phase, bei der Mund und Umgebung die bevorzugte Zone von Erregung und Aufmerksamkeit sind, steht im
Zeichen des Erlebens der geglückten oder missglückten Beziehung zur Mutter. Sie kann durch Aktivität ausgezeichnet sein: Wir
können durch Saugen etwas in uns aufnehmen (später zum Beispiel Wissen) und wir können beißen (uns verbeißen und nicht loslassen
ebenso wie |146| etwas von uns fernhalten, wegbeißen). Wir können aber auch passiv vollgestopft werden, sogar dann, wenn wir gerade kein Aufnahmebedürfnis
haben, und somit gezwungen sein, uns Unbekömmliches einzuverleiben. Wieder spielt die freudig genossene, als beglückend erlebte
Einfühlung der Mutter in unsere Bedürfnisse eine zentrale Rolle. Es macht einen großen Unterschied, ob Sie nach Plan, womöglich
in ungeduldiger Eile, abgefüttert wurden, oder ob Ihre Mutter es sich mit Ihnen gemütlich machte, wenn Sie Hunger hatten und
die Nähe zu Ihnen und die eigenen Gefühle genoss. Hier tauchen Begriffe auf, die Sie schon kennen: Die Wahl des rechten Zeitpunkts,
ein Sich-Einlassen auf die Situation und die in ihr angeregten Emotionen.
Der Wunsch nach Verschmelzung in einer Beziehung nach dem Vorbild der frühen Beziehung zur Mutter bildet eines unserer Urmotive.
Verlief die orale Phase glücklich, dann können Sie in späteren Krisen innerlich zu ihr zurückkehren und Kraft schöpfen. Falls
Ihre primären Erfahrungen aber traumatisch waren, weil Sie nicht zu Ihrer Mutter passten, oder sie nicht zu Ihnen, dann wehren
Sie sich gegen die Wiederkehr einer ganz engen Beziehung, die Sie an unerträgliche Enttäuschungen und Schmerzen erinnert.
Wegen des frühen Mangels fehlen Ihnen innere Kraftquellen, an denen Sie andocken und auftanken können. Das bedeutet das Risiko,
sich zu einer depressiv strukturierten Persönlichkeit zu entwickeln. Depressiv zu sein heißt, ein geringes Selbstwertgefühl
zu haben, sich abhängig zu fühlen von der Zuwendung anderer, Aggressionen eher gegen sich als gegen andere zu richten, die
Welt als leer und ohne positiven Aufforderungscharakter zu erleben und sich selbst schließlich auch ebenso leer und verarmt
zu fühlen.
Depressive Menschen haben ein großes orales Bedürfnis nach Versorgung von außen. Sie hatten in einem früheren Kapitel bereits
den Mechanismus der Projektion kennen gelernt, mit der Sie von anderen erwarten, so gnadenlos zu urteilen wie Sie es vielleicht
tun. Auch die oralen Wünsche lassen sich projizieren. Dann sind nicht mehr Sie es, der etwas will, sondern stets wollen die
anderen etwas von Ihnen. »Alles zerrt an mir, das Buch will von mir gelesen werden, die Berge von Geschirr warten nur darauf,
dass ich sie abwasche«, so erleben Sie mit einer depressiven Energieverarmung und der Projektion Ihrer eigenen unerfüllten
Sehnsüchte Ihre Umwelt. Da Sie keine Kraft übrig haben, können Sie diesen vielen Anforderungen nur ausweichen.
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Kontrolle und Beherrschung
Unsere Entwicklung läuft über den Erwerb von Kompetenzen. Mit diesen Kompetenzen verbindet sich immer wieder eine Loslösung
aus der engen Beziehung zur Mutter. Das Kind, das sich hinzusetzen gelernt hat, ist kompetenter als das Kind, das nur liegt.
Das Gleiche gilt für das Laufen.
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