Schluss mit dem ewigen Aufschieben
Beides bringt die Autonomieentwicklung mächtig voran. Parallel zu den wachsenden motorischen
Kompetenzen, der Körperbeherrschung, entwickelt sich auch der Eigenwille. Die Phase des zweiten und dritten Lebensjahrs steht
ganz in seinem Zeichen. Gleichzeitig wird in der Sauberkeitserziehung das Kind aber auch mit dem erzieherischen Willen der
Eltern konfrontiert. Freud nannte diese Zeit die anale Phase, und in der Tat sind die Vorgänge von Festhalten und Hergeben,
von gehorsamer Produktion (auf dem Töpfchen) und trotziger Verweigerung brauchbare Metaphern für die seelischen Vorgänge,
die mit den Austauschbeziehungen zur Umwelt verbunden sind. Ein gedeihlicher Verlauf dieser Phase verhilft zur Ausprägung
eines gesunden Eigenwillens, der sich sowohl in der schöpferischen Hervorbringung von Produkten ausdrückt wie auch in einer
experimentell-spielerischen Haltung gegenüber Leistungsanforderungen. Entwicklungsstörungen in dieser Zeit begünstigen die
Entstehung einer Neigung zum Aufschieben. Warum ist das so?
In der Sauberkeitserziehung vertreten die Eltern erstmals Leistungsanforderungen. Sie bestehen irgendwann (zu früh, zu spät?)
und irgendwie (lieb, einfühlsam, verwöhnend, belohnend, hart, unduldsam, fordernd, strafend?) darauf, dass jetzt (innerhalb
einer gewissen Zeitspanne, aber nicht irgendwann) hier (an einem Ort und nicht irgendwo) mit einem zielgerichteten Einsatz
(statt herumzuspielen) etwas Eigentliches, das, worum es geht (und nicht irgendetwas) produziert und hergegeben werden soll.
Auf Produktionsprozess wie Produkt reagieren sie in einer bestimmten Weise (mit Beifall, Genugtuung, Lob, Aufmerksamkeit,
Distanz, Abscheu, Ekel, Überdruss, Kritik und so weiter). Über den kürzeren oder längeren Zeitraum der Sauberkeitserziehung
können die Eltern ihre Anforderungen einheitlich-konsequent oder verwirrend-wechselhaft stellen. Sie identifizierten sich
mit diesen elterlichen Standards und Strategien, die ganz wesentlich zur Entwicklung einer Idealvorstellung, wie Sie sein
müssten (Ich-Ideal), beitrugen.
Sie sehen die vielen Parallelen zum Aufschieben: Auch Sie erwarten, |148| dass Sie zu einem bestimmten Zeitpunkt etwas produzieren, einen Entschluss oder eine Handlung. Nicht irgendetwas – jedenfalls
nicht das, worauf Sie eventuell ausweichen –, sondern das Eigentliche. Sie reagieren auf Ihr Aufschieben (oder die prompte
Erledigung) ebenfalls in einer bestimmten Weise und ebenso auf das Ergebnis. Und wie früher Ihre Eltern, sind Sie mal streng
und konsequent mit sich, dann wieder gewährend. Mit anderen Worten: Sie haben sich mit den ersten Erfahrungen der Leistungsanforderungen
identifiziert und übernehmen heute in einer Person die Rollen, die früher auf Sie und Ihre Eltern verteilt waren.
Das Kind der analen Phase bekommt völlig neue Möglichkeiten, sich als Partner der Eltern zu etablieren. Es kann Macht ausüben:
kooperieren oder sich verweigern, es kann etwas anderes als das Gewünschte liefern, zu einem anderen Zeitpunkt, am falschen
Ort und so weiter. Kurz: Es kann sich in Autonomie üben. Dafür stellen die Reifung der Motorik und aggressive Eigenimpulse
die nötige Energie bereit. Eine gesunde Entwicklung in dieser Phase ist ohne das Beziehen einer Gegenposition zu den Forderungen
der Eltern kaum möglich. Schließlich kann man seinen Willen nicht durch Gefügigkeit trainieren. Um die zwangsläufigen Auseinandersetzungen
durchstehen zu können, benötigt das Kind eine gewisse Fähigkeit zum Ertragen von Schuldgefühlen. Selbstbestimmt zu handeln
übt die Entscheidungskraft und verschafft einem Sicherheit darüber, was man will. Positive Erfahrungen stärken das Ich. Verpasst
man es jedoch, sich zu einer eigenständigen Persönlichkeit zu entwickeln und ordnet sich stattdessen nur unter, ist stets
brav, so hat dies starke Schamgefühle zur Folge.
Ein als »Autonomie versus Scham und Zweifel« benannter Konflikt kennzeichnet diese Lebensphase. Sie wissen bereits, dass dieser
Konflikt auch das Aufschieben erlebnismäßig prägt. Bildhaft gehört dazu das Kind der analen Phase, das drückt und presst,
sich offenbar bemüht, etwas zu produzieren, um den Erwartungen der Eltern zu entsprechen, damit gehorsam ist und in Aussicht
stellt, dass bald etwas kommt. Aber, leider: Es klappt nicht, die Eltern sind enttäuscht. Heimlich freut sich das Kind über
seine Körperbeherrschung, die Lust am Zurückhalten und den
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