Schluss mit dem ewigen Aufschieben
eine Ohnmacht, die Sie mit den Worten »ich kann das einfach nicht tun« ausdrücken.
Sie richten sich aber nicht danach und geben die Sache nicht auf. Dabei wäre es eigentlich logisch, von einer Angelegenheit,
die man nicht erledigen kann, die Finger zu lassen, wie auch Prousts Held erkennt:
»›Es lohnt sich wirklich nicht, dass ich darauf verzichte, das Leben eines Gesellschaftsmenschen zu führen, hatte ich mir
gesagt, da ich für die berühmte Arbeit, an die ich mich nun seit so langem schon immer von einem Tag auf den andern endlich
zu begeben hoffe, eben doch nicht – oder nicht mehr – geschaffen bin und da diese ganze Vorstellung vielleicht überhaupt keiner
Realität entspricht‹.« (Proust, VII, S. 242)
|151| Wer aufschiebt, glaubt offenkundig, eigentlich doch zu können. Das spannungsgeladene anale Spiel entwickelt sich genau zwischen
diesen beiden Polen: Sie wissen, dass Sie eigentlich können, aber fürchten, dann auch zu müssen, und Sie wollen nicht (nicht
jetzt, nicht zu diesen Bedingungen und so weiter). Weil Sie sich nicht unterordnen wollen, lehnen Sie sich auf. Da Sie aber
nicht im offenen Kampf den Kürzeren ziehen wollen, tarnen Sie sich. Statt zu sagen, dass Sie nicht wollen, erfinden Sie eine
scheinbar unwiderlegbare Entschuldigung – Sie sind aktiv, drücken, pressen, rennen in der Gegend herum, machen tausend andere
Sachen, aber nicht das, worum es geht. Offenkundig können Sie es nicht. Dabei kann sich in Ihnen eine mehr oder weniger starke
Angst entwickeln: Wenn Sie es nicht schaffen, irgendwann die Kurve zu kriegen, dann landen Sie in der Gosse, so lautet Ihre
Befürchtung, in seelischer, sozialer und materieller Verelendung. Wenn dem so wäre, dann sind Sie wieder beim Versorgtwerden
gelandet, also bei einem früheren, oralen Thema.
Anja lebte trotz ihrer vielen Talente und ihrer Herkunft aus einem wohlhabenden Elternhaus eine Zeit lang auf Pump, von Freunden.
Sie liebäugelte mit der Sozialhilfe. Grund dafür war, dass sie ihre Sachen nicht mehr auf die Reihe kriegte: Sie verschlampte
Rechnungen, zahlte ihre Miete nicht mehr, versäumte es, auf ihrer Arbeitsstelle zu erscheinen, feierte krank. Schließlich
verlor sie ihren Job. Sie hatte das Gefühl, ihr Leben nicht mehr unter Kontrolle zu haben. Dass ihre Freunde ihr beistanden,
fand sie nur eine kurze Zeit lang beglückend, bald hatte sie eher den Eindruck, dass diese Hilfe ihr zustand und dass es ganz
in Ordnung war, sich versorgen zu lassen. Noch heute tut sich Anja schwer damit, für sich und ihre Familie zu sorgen. Sie
fühlt sich durch Horst dominiert, durch sein Leben bestimmt und rebelliert dagegen. Heimlich aber ist sie erleichtert darüber,
von ihm kontrolliert zu werden. Deswegen scheut sie das Gespräch mit ihm, und erst recht den Gang zu einer Eheberatung. Es
ist leichter so, wie es ist.
Wie Sie bei dem Stichwort »Kontrolle« schon bemerkt haben, stecken in einer zwanghaft geprägten Charakterstruktur auch Potenziale,
die zur Überwindung des Aufschiebens wichtig sind. Ohne das Einhalten von Selbstverpflichtungen geht es nicht. Ihr Eigensinn,
der Sie gegen vermeintliche oder tatsächliche Fremdbestimmung angehen lässt, |152| kann Ihnen als Durchhaltevermögen (eine positive Variante der Sturheit) zugute kommen, ebenso auch Ihr Widerwille gegen Chaos.
Sie werden im dritten Teil dieses Buches Möglichkeiten kennen lernen, Ihre Schwächen zu Stärken werden zu lassen.
Sie haben oben schon den besonderen Zusammenhang zwischen dem Aufschieben und Schamgefühlen kennen gelernt. Wieder ist es
die anale Phase, die über deren Ausprägung entscheidet. Dass Schamgefühle als Gegenspieler der Autonomieentwicklung auftreten,
ist unvermeidlich. Sie resultieren beispielsweise aus
Unterbrechungen im Kontakt zu den Eltern, traumatische Trennungen, Verluste durch Tod oder Scheidung;
Vernachlässigung und Missbrauch;
realen oder wahrgenommenen körperlichen Mängeln (häufig einhergehend mit Übergewicht);
Gefühlen der Unterlegenheit.
Helmut war in seiner Familie der Jüngste, über den oft gelacht wurde, wenn er versuchte, an die Leistungen der älteren Geschwister
anzuknüpfen. Seine fünf Jahre ältere Schwester wurde ihm häufig als leuchtendes Beispiel vorgehalten. Sein sieben Jahre älterer
Bruder konnte natürlich immer alles noch viel besser und spielte überhaupt in einer anderen Liga, wie alle fanden. Helmut
war der kleine Nachzügler, dessen
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