Schluss mit dem ewigen Aufschieben
antworten, setzt auch ein relativ ungestörtes Verhältnis zu sozialer Anpassung voraus.
Kinder, die das nicht leisten können oder in der Schule nicht gut sind, entwickeln Minderwertigkeitsgefühle. Aufschieben aus
Minderwertigkeitsgefühlen heraus soll in späteren Lebensphasen vor erwarteten Beschämungen schützen. Sie sagen zu sich: »Mit
dir ist ohnehin nichts los, du brauchst mit deinem Vorhaben gar nicht erst anzufangen.« Um diese bedrückende Überzeugung zu
kompensieren, entwickeln Sie ein anderes, grandioses Bild von sich. Das sagt Ihnen: »Du musst nur auf den richtigen Moment
warten, dann wirst du mit deiner Begabung den großen Wurf landen.« Ihr entwertetes Selbstbild wird jedesmal, wenn Sie aufschieben,
bestätigt und verstärkt. Zum Ausgleich intensivieren sich auch die grandiosen Fantasien, oft in Form von Tagträumen von mühelosem
Erfolg und Ruhm. Jedes konkrete Anpacken eines Vorhabens birgt nun immer mehr das Risiko in sich, dieses aufgeblähte Teil-Selbstbild
zu gefährden. Weiteres Aufschieben erhält zwar einerseits die Illusion, eigentlich doch ganz großartig zu sein, am Leben,
andererseits begünstigt es das Umkippen in die entwertete Selbstwahrnehmung. Da dieser Konflikt an die Wurzeln Ihres Selbsterlebens
gehen kann, werden Sie die Tendenz spüren, sich ganz auf die eine oder andere Seite zu schlagen. Wenn Sie dabei die grandiose
Seite wählen, dann legen Sie den Grundstein dafür, als |155| verkrachte Existenz mit einer Lebenslüge herumzulaufen. Entgegen allem Augenschein werden Sie dann für sich in Anspruch nehmen,
der Einzige mit Durchblick zu sein, der im Grunde alles erreicht hat, indem er sich verweigerte.
Mit dem Aufschieben drehen Sie den Spieß um. Wenn Sie aktiv ein Fehlverhalten an die Stelle setzen, wo Sie sich früher passiv
und ohnmächtig als unfähig erlebt haben, dann fühlen Sie sich wenigstens nicht so hilflos. Wo Sie früher ein »Ich kann es
nicht besser« erlitten haben, sagen Sie sich jetzt: »Ich könnte schon besser, wenn ich nicht so viel herumtrödeln würde«.
Pubertät
Die eigene Persönlichkeit als unverwechselbar und einzigartig darzustellen und eine abgegrenzte, konturierte Identität zu
entwickeln, ist die Hauptaufgabe der Pubertät. In dieser Phase der Erschütterungen und Veränderungen wird ruhiges Arbeiten
gestört durch Unsicherheiten, Stimmungsschwankungen, Triebstürme, Aufsässigkeit und Gefühle von Peinlichkeit. Die allgemeine
Auflehnung gegen die Maßstäbe der Eltern kann natürlich auch Entscheidungs- und Leistungsstandards betreffen. Denen etwas
Konstruktives entgegenzusetzen, ist auch deswegen schwierig, weil der ewige Streit zu Hause ohnehin einen hohen Stresspegel
erzeugt. Mit der Gruppe der Gleichaltrigen konform zu sein, bekommt in der Pubertät eine besondere Wichtigkeit. Wenn sie Leistung
ablehnt, ist es schwer, sich davon nicht anstecken zu lassen. Zudem sind Schlendrian, Trödeln und Zuspätkommen in der Pubertät
ohnehin bevorzugte Provokationsmechanismen. Wenn Eltern und Lehrer auf diese Verhaltensweisen übermäßig reagieren, können
sich Fixierungen herausbilden, die schwer zu überwinden sind.
Als sie 14 war, vernachlässigte Anja ihre Hausaufgaben, lernte nicht mehr und hatte schlechte Ergebnisse in Klassenarbeiten.
Häufig kam sie morgens mit der Entschuldigung zu spät, dass sie sich erst noch habe schminken müssen. Ihre Klassenlehrerin
hatte Anjas gute Mitarbeit zuvor so empfunden, als wolle dieses hübsche, begabte Mädchen ihr eine persönliche Freude bereiten.
Nun reagierte sie ebenso
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wenig professionell, sondern beleidigt, als habe Anja gemeinsame Werte verraten. Anja war überrascht über die Heftigkeit der
herabsetzenden Äußerungen ihrer Lehrerin (»Wenn du meinst, dass Lippenstift wichtiger ist als deine Zukunft, dann bitte!«)
und fühlte sich fallengelassen. Ihre Enttäuschung setzte sie in Ärger um und lernte noch weniger. Die Lehrerin steigerte symmetrisch
ihre Kritik, bis die beiden füreinander rote Tücher geworden waren. Die Fünf im Zeugnis war für Anja weniger schlimm als die
Erfahrung, offenbar nur bei Wohlverhalten, Bravheit und Leistungserfüllung gemocht zu werden. Da ihre Eltern sich für schulische
Angelegenheiten nicht interessierten, fühlte sie sich noch mehr im Stich gelassen, als es in der Pubertät ohnehin schon üblich
ist. An ihre alte Leistungsfähigkeit wieder anzuknüpfen, erschien ihr in den nächsten
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