Schluss mit dem ewigen Aufschieben
einen Schlag zerstören. Allerdings wurde ihm auch klar, dass er sich nicht aufopfern konnte
und wollte. Er befand sich in einem schweren Konflikt. Das Hinauszögern des Studienabschlusses erlaubte es ihm, sich nicht
festlegen und niemandem wehtun zu müssen, um den Preis, seine Autonomie zurückzustellen.
Die typischen schwarzen Schafe in Familien sind zumeist ehemalige Delegierte, die aufgrund früheren Versagens ausgestoßen
wurden und nun keine Hoffnungsträger mehr sind. Auch ihnen bleibt nur der sanfte Weg des Aufschiebens, da sie mehr denn je
den elterlichen Leistungserwartungen genügen müssen, um überhaupt einen Rest an Zuwendung zu bekommen.
Für beide Gruppen von Delegierten liegt der gravierendste Nachteil des Aufschiebens darin, dass sie immer Ich-schwächer und
somit immer unfähiger werden, den Konflikt mit ihrer Herkunftsfamilie zu führen. Der grundsätzliche Konflikt, ihre Individuation
anzustreben und Ausbruchsschuld ertragen zu lernen, gerät in den Hintergrund. Im Vordergrund machen die Betroffenen sich und
ihren Familien über lange Zeit die falsche Hoffnung, dass es »nun aber« (im neuen Jahr, nach weiterer Materialsammlung oder
ähnlichen Vorbedingungen) endlich los- oder weitergehen werde. Da Erfolge ausbleiben, zehren innerseelische Scham- und Selbstwertstörungen
die Personen aus, sie stehen als Versager da. Der Teufelskreis von guten Vorsätzen, Scheitern, vermehrter Selbstverachtung,
erneuten guten Vorsätzen und so weiter verstellt häufig den Blick auf den eigentlich anstehenden Konflikt: Verselbstständigung
versus Ausbruchsschuld.
|159| Zusammenfassung
Die Entwicklung vom Kind zum Erwachsenen verläuft in Phasen, in denen verschiedene Konflikte gelöst werden müssen. Die Art
der Lösung bestimmt über Urvertrauen, Selbstständigkeit und Freude an der eigenen Leistungsfähigkeit. Familien fördern oder
behindern die erforderlichen Entwicklungsschritte. Wieder einmal zeigt sich das Aufschieben als ein Kompromiss, den Sie zwischen
Ihren Wünschen nach Autonomie und Schuldgefühlen geschlossen haben. Um diese Art des Aufschiebens zu überwinden, ist es erforderlich,
aus den alten Rollen als Tochter oder Sohn herauszutreten.
|160| 9.
Do it now! und Widerstand:
Gesellschaftliche Aspekte
Mythen: Schneller, schöner und perfekt
Jeden Tag hören wir die bekannten Schlagwörter, die das gegenwärtige Leben in unserer postmodernen Gesellschaft kennzeichnen
sollen: Globalisierung und die Sicherung der internationalen Wettbewerbsfähigkeit. Wir müssen wieder zukunftsfähig werden,
so sagt man uns, und viele übersetzen das mit: härter arbeiten. Auch an die permanente Beschleunigung unserer Lebensverhältnisse
haben wir uns gewöhnt: Der neue Computer ist viermal so schnell wie der alte und mit dem neuen High-Speed-Zugang kommen Sie
zehnmal schneller ins Internet. In Berlin heißt sogar ein Möbelgeschäft: »Schneller wohnen«. Bedürfnisse sollen
sofort
befriedigt werden, so lautet die Botschaft. Die Devise: Jetzt kaufen, später zahlen, suggeriert ebenfalls, wie wichtig es
ist, erst einmal zu konsumieren. Die Bezahlung der Rechnung wird auf später vertagt. Schnelligkeit signalisiert leichtere
Erreichbarkeit, wir müssen weniger Zeit investieren, und Zeit ist Geld. Geld verschwendet man nicht, Zeit ebenso wenig. Wer
aufschiebt, ist in dieser Hinsicht ein Verschwender, der mit einem gesellschaftlich hoch geschätzten Gut nicht sparsam umgeht.
Er lebt, als sei seine Lebenszeit nicht begrenzt und als könne er alles auf Morgen verschieben, in der Annahme, dass es immer
ein Morgen gibt:
»Da meine Trägheit mir die Gewohnheit mitgeteilt hatte, meine Arbeit immer von einem Tag auf den folgenden zu verschieben,
stellte ich mir zweifellos vor, es könne mit dem Tode ebenso sein.« (Proust, VII, S. 165)
Das Leben in unserer westlichen Gesellschaft folgt über weite Strecken diesem Prinzip. Ob es die ungelösten Fragen der Endlagerung
von Atommüll, die Staatsverschuldung oder die Klimaveränderungen betrifft, wir konsumieren jetzt und überlassen es zukünftigen
Generationen, |161| die Zeche zu zahlen. Aufschieben in wirklich großem Maßstab!
Andererseits gilt nach wie vor die protestantische Leistungsethik als hoher Wert. Zu ihr gehört es, sich anzustrengen, Frustrationen
zu ertragen und Belohnungen erst nach einem Erfolg zu genießen. Wer aufschiebt, entzieht sich diesen Dogmen scheinbar und
wird dadurch zum
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